ELF

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Der eine Blick in mein Spiegelbild hatte mir nicht nur gezeigt, dass ich wirklich schön aussah - er hatte auch dafür gesorgt, dass ich mich fühlte, als wäre ich schön.

So kam es auch, dass ich selbstbewusst mit Mina an meiner Seite auf den großen Festplatz von Scintilla schritt - wobei ich zugeben musste, dass ihr Kleid ebenfalls wunderschön war. Es hatte einen anderen Schnitt, bei dem noch viel mehr Haut freigelegt wurde als bei meinem - eigentlich war es schon weniger ein Kleid, sondern eher ein Fetzen -, aber irgendwie passte es zu Mina.

Sie sah aus wie eine schelmische Katze, die heute ein paar Mäuse fangen würde - wenn sie sich trauen sollten, ihr mit ihren Krallen näher zu kommen.

Als wir ankamen war das Fest schon in vollem Gange: es duftete nach leckerem Essen, herrliche Musik schwoll durch die Luft, und es schien so, als hätten sich bereits die ersten Gruppen gebildet, wobei einige Pärchen sich vom Rest abgesetzt hatten, um zu der Musik zu tanzen.

"Also dann", meinte Mina grinsend und ließ meinen Arm los. "Es wird Zeit, die Nacht in vollen Zügen zu genießen." Und bevor ich realisiert hatte, was sie mir damit unterschwellig zu sagen versuchte, drückte sie mir einen kleinen, schweren Beutel in die Hand, tätschelte meine Schulter und meinte flötend: "Gib ja nicht alles auf einmal aus - und angel dir den ein oder anderen Kerl."

Damit ließ sie mich alleine stehen und tauchte bereits nach wenigen Augenblicken bereits in der Menge unter, noch bevor ich auch nur ihren Namen hätte sagen können - oder mich für all das bedanken hätte können, das sie für mich getan hatte.

Meine Schuldgefühle verstärkten sich noch zusätzlich, als ich einen Blick in den Beutel hineinwarf und mir ein Haufen silberner Münzen entgegen blinkte. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, wie lange es wohl gedauert haben mochte, so viel Geld anzusparen.

Zwar hatte ich in meinem bisherigen Leben im Kloster noch nie Geld benötigt, doch wusste ich sehr wohl um dessen Wert und Verwendung. So naiv und dümmlich war ich dann doch nicht, wie Mina mich immer behandelte.

Seufzend schnürte ich den Beutel wieder zu und verbarg ihn sicher in den Falten des Tuches, das fest um meine Hüften gebunden war. Ein paar Mal überprüfte ich noch ob alles wirklich fest saß, und als ich sicher sein konnte, dass ich ihn nicht jeden Moment bei einer noch so kleinen Erschütterung verlieren würde, wandte ich mich wieder den aktuellen Fragen zu:

Was sollte ich nun tun?

Mina hatte mir erklärt, dass nach der offiziellen Ansprache - die wir wegen unserer Outfits verpasst hatten - erst einmal ein ruhigerer Teil stattfinden würde, in dem man sich umsehen und miteinander bekannt machen konnte.

Danach würde das Fest der Wollust offiziell beginnen, die Hohepriesterin würde die jungen Novizinnen und die - mir bisher fremd gebliebenen - Novizen aufrufen und jedem einzeln die zeremoniellen Fragen stellen. Auch würde sie sichergehen, dass wir alle noch unseren schlichten Silberring trugen - als Zeichen dafür, dass wir uns von unserem alten ich der vergangenen Nacht getrennt hatten und höher aufgestiegen waren, würden wir ihn bei der Abschlusszeremonie bei Tagesanbruch abstreifen.

Natürlich würde sie nie bekanntgeben, dass die jungen Männer Anhänger der Göttin Solus waren und insgeheim in all den Jahren schon immer mit uns unter einem Dach geschlafen hatten, und umgekehrt genauso - das gäbe sonst einen Skandal und zukünftig womöglich sogar einen Aufstand, immerhin war dies die einzige Nacht unseres Lebens, in der wir das Bett mit den Männern teilen durften - und die Verlockung es zu wiederholen, selbst wenn es heimlich wäre, wäre viel zu groß.

Aber bis zum offiziell nächsten Teil blieb mir ja noch Zeit.

Ich beschloss, als erstes einen Blick auf das Essen zu werfen, das angeboten und lauthals angepriesen wurde. Es war schon einige Stunden her, dass ich zuletzt gegessen hatte, und ich hatte keine Lust, mir den Abend durch einen knurrenden Magen verderben zu lassen.

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