Mein Zittern hörte nicht auf. Ich kauerte eine halbe Ewigkeit hinter dem Kistenstapel, lauschte und spähte in die Nacht hinaus, bohrte meine Fingerspitzen in meine Arme und hielt mich an dem leichten Schmerz fest.
Real. Das hier war real. Nein, ich hatte mir nicht den Kopf gestoßen. Nein, ich wurde nicht wahnsinnig oder verrückt oder... oder...
Ein hysterisches Kichern bahnte sich seinen Weg nach oben, und ich konnte plötzlich nicht mehr aufhören zu lachen, obwohl mir Tränen über die Wangen liefen. Alles brach über mir zusammen. All die Geschehnisse von heute...
Vom Bummeln mit Mina, zum hübsch machen, zum Fest, zum übergriffigen Typen, zu der beängstigenden Hohepriesterin, zu der verhüllten Gestalt in der Menge, die irgendetwas mit mir angestellt hatte, zu meinem Zusammenbruch danach, zu dem Tanz mit dem Maskierten, zu dem leidenschaftlichen Kuss, zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass er nicht wiederkommen würde, zu dem irren Klingeln und den brutalen Schmerzen, zu der dunkle Gasse mit dem furchteinflößenden Wesen und der toten Frau...
Sie waren überall, diese Wesen. Sie hatten die Gestalt der Hohepriesterin angenommen, der Maskierte war einer von ihnen, unter den feiernden Novizen und Novizinnen, unter den Bürgern und Bürgerinnen...
Ich hatte mit dem Maskierten getanzt. Ich hatte ihn geküsst.
Unwillkürlich musste ich würgen. Wie viele junge Frauen hatte er davor schon... gefressen? Wie viele Mädchen hatte er umgebracht, bevor er zu mir gekommen war? Ich hatte diese Lippen geküsst, die... die jemand anderen...
Ich erbrach mich.
Zitternd zog ich die Beine an und legte meine Stirn auf die Knie. Ich hatte neben der Hohepriesterin gestanden, die auch so ein Wesen war. Und bei Tagesanbruch... Bei Tagesanbruch würde ich ihr wieder gegenüber stehen müssen, wenn sie verkünden würde, dass die Novizen nun Priester geworden waren.
Und wenn wir erst einmal nach Hause zurückkehren würden...
Wie viele im Kloster konnten so ein Wesen sein? Wenn der Maskierte tatsächlich ein Novize desselben Klosters war wie ich, wie viele andere waren dann insgeheim auch solche Ungeheuer? Wie oft hatte ich unter demselben Dach mit ihnen geschlafen, gemeinsam mit ihnen meine Mahlzeiten eingenommen, mit ihnen gebetet, den Feiertagen gehuldigt...
Ich war so unendlich müde. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Ich war am Ende.
Schritte ertönten. Erneut. Ich hatte mich nach wie vor nicht von der Stelle gerührt. Jetzt waren sie zurückgekommen. Ich hatte meine Chance zur Flucht verpasst. Jetzt war ihnen klar geworden, dass sie nicht alleine in der Gasse gewesen waren, dass sie einen Zeugen gehabt hatten, und jetzt waren sie zurückgekommen um mich auch noch aus dem Weg zu räumen.
Sollten sie doch. Ich war so müde von allem. Ich wollte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, nicht mehr...
Was hatte es mir denn gebracht? Ich war so neugierig und leichtsinnig und naiv gewesen. Ich hatte so dringend die Stadt sehen wollen, die Welt außerhalb. Nun hatte ich sie gesehen, und ich verstand, warum die Glaubensmutter mich immer beschützen und behüten hatte wollen.
Bestimmt wusste sie über diese Bestien Bescheid. Sie wusste immer über alles Bescheid. Andererseits - hätte sie dann die verdächtigen Novizen und Novizinnen nicht längst vor die Tür gesetzt? Oder war genau das der Grund gewesen, warum die Priesterschaft mir immer mit Abscheu, Hass und Misstrauen entgegen getreten war? Fürchteten sie, ich könnte jemand von denen sein, und sie eines Tages klammheimlich in ihren Betten auffressen?
Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr. Und ich wollte es auch gar nicht mehr wissen. Manchmal war unwissend sein das Beste. Das zumindest hatte ich durch die Ceremonia Ascendia gelernt.
Die Schritte kamen näher. Tapp. Tapp. Tapp. Ein jeder von ihnen warf ein Echo an die Wände.
Ich hörte, wie die Kisten knarzten, als sie zur Seite geschoben wurden. Ich verharrte in meiner Position, vergrub mein Gesicht noch tiefer in der Mulde zwischen meinen Beinen und meinem Körper. Sie waren gekommen, um mich zu holen. Sie waren gekommen, um mich zu fressen.
Jemand strich mir über das Haar und ich erstarrte. Die Berührung war so sanft, so federleicht und kam so überraschend, dass ich erstarrte. Dieser jemand strich ein paar meiner Haarsträhnen zurück, die Hände waren weich und warm, und streichelten weiterhin über meinen Kopf. Behutsam, als wäre ich aus Glas. Als würde ich jeden Moment in all meine Einzelteile zerbrechen.
Ich schluchzte leise. Licht strahlte hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Eine sanfte Wärme breitete sich in meinem Inneren aus, wiegte mich, streichelte mich, besänftigte mich. Das Gefühl kam mir vertraut und doch vollkommen fremd vor.
Irgendwann hob ich den Kopf. Die Person, wer auch immer es gewesen sein mochte, war weg. Ich saß alleine in der Dunkelheit. Aber ich spürte noch immer geisterhaft die Berührung einer warmen Hand.
Schluchzend erhob ich mich auf wackeligen Beinen. Hier konnte ich nicht bleiben. Ich sollte versuchen zumindest ein paar wenige Stunden Schlaf zu bekommen, bevor der Tag anbrach. Bevor ich der Hohepriesterin wieder gegenüberstehen müsste. Wenn ich schon keine romantische Liebesnacht bekam, dann doch zumindest eine Mütze voll Schlaf - anstatt weiterhin in einer dunklen Gasse zu zittern.
Als ich an der Stelle vorbeikam, wo zuvor das Wesen gestanden hatte, war da kein Leichnam mehr. Jemand hatte den Körper weggebracht. Aber ich erinnerte mich an die Worte des Wesens und das wenige, das ich von dem Aussehen der jungen Frau hatte ausmachen können, reichte aus um zu begreifen, dass er es eigentlich auf mich abgesehen hatte. Er dachte, er hätte mich erwischt, mich gefressen. Dabei hatte er mich verwechselt.
Ich zwang mich, den Blick abzuwenden und weiterzugehen. Torkelnd schleppte ich mich durch einige Straßen und Gassen, und war schon kurz davor zu verzweifeln weil ich den Weg zurück zum Gasthaus unmöglich finden konnte, da rannte ich zufällig in eine junge Frau hinein.
Wir blickten uns für einen Moment beide mit großen Augen an, dann atmeten wir beide erleichtert aus. Es war nur Mina. "Wie siehst du denn aus", murmelte sie mit heiserer Stimme und strich mir mit einem Finger über die Wange. "Die ganze Schminke verschmiert, die Frisur ein Vogelnest, das Kleid zerrissen...", sie schüttelte den Kopf, aber an ihren Lippen zupfte ein kleines Lächeln, das konnte ich erkennen.
"Dasselbe könnte ich zu dir sagen", seufzte ich mit schwacher Stimme. Die Beschreibung, die sie abgegeben hatte, passte nämlich genauso gut zu ihr.
Leise schnaubte Mina. "Sieht so aus als hätten wir beide genug für heute. Na komm, lass uns ins Bett gehen", entgegnete sie, nahm meine Hand und führte mich durch die dunklen Straßen zum Gasthaus zurück.

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VIRGO
Fantasy~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...