Ein lauter, klarer Glockenton ertönte, und alles wurde still. Gespräche wurden mittendrin abgebrochen, Lachen in einem einzigen Augenblick erstickt, Gesprächspartner wurden vergessen und alle Augen wandten sich in eine einzige Richtung: Zum Podest, auf dem die Hohepriesterin mit aushebreiteten Armen stand.
"Liebe Geistliche, liebe Bürger", begann sie mit lauter Stimme. Irgendwie klang es nach einem eigenartigen Singsang. "Es freut mich zu sehen, dass ihr euch alle an diesem großen, geistreichen Tag so prächtig amüsiert. Doch nun ist es Zeit, im offiziellen Programm voranzuschreiten."
Sie machte eine Kunstpause und blickte mit einem wohlwollenden Lächeln auf uns, unsere Reihen und Grüppchen hinab, während sie ihre Arme sinken ließ und sie vor ihrem Körper faltete. Für mich sah es irgendwie verzerrt aus.
"Liebe Geistliche, sobald Ihr euren Namen hört: Kommt zu mir. Kommt an meine Seite, auf dass ich eure Taten verbreiten kann, kommt hier her, auf dass ihr das Band aus Silber, das euch auf eurem Weg hierhin begleitet hat, zur Schau stellen könnt, kommt vor das Angesicht der Götter, auf dass ihr euer Gelübde in ihrer Gegenwart sprechen mögt", sprach sie überschwänglich.
Irgendetwas an ihren Worten irritierte mich. Ich konnte nicht benennen, was es war, aber irgendetwas war da. Vielleicht war ich auch einfach nur nervös - immerhin würde ich gleich auf das Podest steigen müssen, vor aller Augen.
Sie rief einen Namen nach dem anderen auf, und jede Novizin und jeder Novize trat erhobenen Hauptes zu ihr. Dann las sie aus der geheimen Schrift vor, die von den Glaubensmüttern und -vätern ausschließlich für die Hohepriesterin verfasst worden war.
Die Informationen, die sich daraus ergaben, sorgten für viel Oh und Ah. Manchmal ging es um tragische Geburtsumstände und die Verkraftung und Verarbeitung dessen, manchmal ging es um wundersame Taten, freundliche Gesten und wohlwollendes Handeln.
Auch negative Persönlichkeitsmerkmale wurden genannt, doch immer wurden sie als Nährboden des Guten dargestellt, sei es eine Emotion, die erst dadurch entstanden war, sei es eine Handlung, die erst dadurch vollbracht worden war.
Als ein weiterer Name aufgerufen wurde und etwas leicht gegen mich rempelte, zuckte ich überrascht zusammen. Dabei war es nur der maskierte Fremde, der nun voran schritt. Seine Anwesenheit, seine Existenz hatte ich irgendwie vollkommen ausgeblendet. Vergessen - von einer Sekunde auf die andere. So sehr hatte mich die Hohepriesterin mit ihren Worten in den Bann gezogen.
Ich erschauderte, als ich mich umblickte. Die Gesichter um mich herum sahen bis auf ein glückliches Lächeln ausdruckslos aus, die Augen glanzlos und glasig. Ob ich bis gerade eben auch so ausgesehen hatte?
Plötzlich war mir kalt und ich schlang die Arme um meine schlanke Gestalt. Irgendetwas stimmte hier nicht - oder sah es immer so aus, wenn jemand in Scintilla große Reden schwang? Die Bürgerschaft wirkte die meiste Zeit über trostlos und verzweifelt, bestimmt bekamen sie nicht oft großartige Reden zu hören - war das die Ursache für ihr sonderbares Verhalten nun, oder hatte der Alkohol womöglich sogar seine Finger im Spiel?
Ein seltsames Engegefühl setzte sich in meiner Brust fest, und ich senkte den Blick zu Boden. Was hatte ich überhaupt getan, bevor die Hohepriesterin mit ihrer Rede begonnen hatte? Worüber hatte ich mit dem maskierten Fremden gesprochen?
Ich biss mir auf die Lippen. Ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern - in meiner Erinnerung klaffte ein ödes Loch, als hätte man ein unförmiges Stück aus einem Meer aus Stoff herausgeschnitten.
"Amaelya--", rief eine Stimme meinen Namen und ich zuckte erneut zusammen, während mein Blick hochflog. Die Stimme stockte mittendrin überrascht, und setzte dann hinzu: "Einfach nur Amaelya." Der Blick der Hohepriesterin wanderte wachsam durch die Reihen.

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VIRGO
Fantasy~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...