EINUNDDREIßIG

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Schatten. Blut. Tod. Überall.

Es gibt kein Entrinnen - es gibt keinen Ausweg.

Schatten. Blut. Tod. Knochen.

Dornen aus purer Nacht.

Blut. Knochen. Schatten - tanzende Schatten.

Ich, wie ich zitternd am Boden knie, die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen, das Gesicht an meine Knie gepresst, und schluchzend hektisch ein- und ausatme.

Kontrollverlust. Panikattacke.

Blut. Knochen. Tod. Schatten. Dornen.

Ich sehe nur verschwommen was in dem Raum um mich herum geschieht, denn eigentlich kauere ich schließlich am Boden und weigere mich, der Realität ins Auge zu blicken, rolle mich zusammen und wünsche mich weit, weit fort - nur weg von hier, wo ich keine Kontrolle mehr habe und die Nachtdornen jeden aufschlitzen, der mir zu nahe zu kommen versucht.

"Bleibt weg!", kreischt meine kindliche Version. "Bleibt weg!"

Niemand hört auf sie.

Sie ist nur ein Kind.

Ein Kind, das gerade unrechtmäßig unzählige Menschenleben einfordert.

Ich kann nichts tun - ich habe auf diese Welt keinen Einfluss. Ich bin nur ein stummer Zuschauer, und das ist beinahe noch schlimmer als tatsächlich präsent zu sein.

Denn auf diese Weise bin ich zur Untätigkeit verdammt, während ich ein Leben nach dem anderen in diesem Saal verlöschen spüre.

Und über allem... schweben rot glühende Augen, die verschleiert in die Leere blicken.

⭒❃.✮:▹  ◃:✮.❃⭒

Schweißgebadet schrak ich aus dem Traum hoch, sprang aus dem Bett und fuhr mir mehrfach mit den Händen über das Gesicht, während ich im Zimmer auf und ab ging.

Ein Traum. Nur ein Traum.

Und dennoch eine vage Erinnerung.

Seufzend schloss ich die Augen und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Kontrolliert atmete ich tief ein, hielt für einige Sekunden die Luft an, und entließ sie dann langsam.

Sobald der Schrecken seine Krallen ein wenig gelockert hatte, sobald ich nicht länger das Blut auf meiner Haut spürte, sobald meine Kehle nicht mehr wie zugeschnürt war, ließ ich die Hände sinken, öffnete die Augen wieder und blickte zum Fenster.

Es war noch mitten in der Nacht. Bis zum Morgengrauen würde es wohl noch einige Stunden dauern. Mina schlief bestimmt noch - seit wir nicht länger um jede noch so kleine Münze kämpfen mussten konnten wir uns den Luxus leisten, bis zum Mittag durchzuschlafen. Zumindest theoretisch.

Wieder seufzte ich, schnappte mir kurzerhand die Decke aus meinem Bett und kletterte aus dem Fenster aufs Dach. Ich war mittlerweile ziemlich geübt darin, und so dauerte es nicht lange, bis ich den Dachfirst erreicht hatte und mir die Decke um die Schultern schlang. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Schornstein, kuschelte mich ein und starrte gen Nachthimmel.

Die Sterne beruhigten mich. Egal wo wir waren, egal wie weit wir umher zogen, sie waren mein steter und stummer Begleiter. Sie sahen mich nie schief an, zweifelten an mir, fürchteten sich vor mir oder gaben mir das Gefühl, ich sei eine wandelnde Katastrophe. Sie waren stumme Zuhörer, wann immer ich leise meine Gedanken vor mich hin flüsterte, sie waren meine leuchtenden Wegweiser, wenn wir uns mal wieder auf unseren Reisen verirrt hatten, und sie waren meine eigene, ferne, funkelnde Decke, wenn die Nächte für mich mal wieder besonders schlimm wurden.

Die dichten, dunklen Bäume um mich herum raschelten leise im sachten Abendwind und ich genoss die kühle Brise auf meinem Gesicht.

"Das Leben ist so viel ruhiger geworden, seit wir diese Hütte der alten Dame abgekauft haben", murmelte ich in die erwartungsvolle Stille des Sternenhimmels. "Es ist wirklich ein Wunder, dass sie wie aus dem Nichts aufgetaucht und dieses Haus unbedingt hat loswerden wollen", flüsterte ich und strich über die Holzbalken des Dachs. "Ich kann sie verstehen, wisst ihr? Wer will schon an dem Ort bleiben, an dem man die ganze Zeit über an seine verlorenen, verstorbenen Liebsten erinnert wird?"

Seufzend pulte ich mit meinem Fingernagel ein Blatt zwischen den Balken hervor. "Ich verstehe sie so gut. Ich würde es keine einzige Sekunde mehr im Kloster aushalten - jetzt, da...", setzte ich an, schluckte dann jedoch schwer. "Jetzt, da... Sie tot ist", würgte ich hervor. Ich hatte es bisher noch nie ausgesprochen - nie laut.

Der Gedanke an die Glaubensmutter und mein verlorenes Leben im Kloster wiegt noch immer zentnerschwer auf meinen Schultern. Jetzt, da ich nicht mehr jede Sekunde angespannt sein und mit einem Angriff rechnen muss, habe ich Zeit zu trauern - um die Toten und um alles Verlorene.

"Mina zeigt nie auch nur den leisesten Hauch von Heimweh oder Trauer über die Vergangenheit", berichtete ich dem Mond. "Aber trotzdem habe ich in ihren Augen mehrfach bereits diesen gehetzten Ausdruck erlebt. Sie traut dem augenscheinlichen Wunder nicht - denn genau das ist es doch, oder nicht? Ein göttliches Wunder. Wieso sonst sollte diese alte Dame unseren Weg kreuzen und uns für einen geringen Preis ihr altes Heim überlassen?"

Mein Blick glitt nachdenklich über die wogenden Baumkronen, die goldenen Felder, den Scheunen und Gehegen. "Es ist ein richtiger kleiner Bauernhof. Zwar ist dadurch jeder Tag ausgefüllt mit anstrengender, körperlicher Arbeit - die Tiere und Felder versorgen sich immerhin nicht von selbst -, doch auch das hat sein Gutes. Es... hilft. Es lenkt ab. Von der Trauer. Von dem Verlust. Von der potenziellen Gefahr."

Während ich dem Lied des Abendwindes lauschte, der mir sachte durch die Haare fuhr, nickte ich stumm vor mich hin und schlang die Decke fester um meine Schultern. "Ich kann zwar nicht benennen wieso, aber ich habe das Gefühl, wir sind in Sicherheit. Vorerst. Ich will optimistisch sein und daran glauben, dass es ein göttliches Wunder ist und nun alles wieder besser wird, aber... Ich kann auch Minas Paranoia verstehen. Was auch immer diese Wesen bezweckt haben, indem sie uns gejagt haben - was auch immer da alles geschehen sein mag, in Scintilla, im Kloster, und auf dem Weg bis hierhin -, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so leicht aufgeben."

Leise schnaubend lachte ich bitter in mich hinein. "Ich bin schließlich Optimistin, und keine Närrin."

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