ZWEI

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Sofort schlug mir die stickige, trockene Luft entgegen und eine samtene Kühle umfing mich und wischte die letzten Reste des warmen Sonnenlichts von meinem Haupt. Die Hallen waren zwar lichtdurchflutet durch die unzähligen Fensteröffnungen, doch sie waren so groß und weiträumig, dass sie sich nie sonderlich erwärmten.

Was ein Segen war, wenn man bedachte, wie lebensbedrohlich heiß es an manchen Tagen werden konnte.

Seelenruhig schritt ich durch die Halle und ging mehrfach auf Nummer sicher, dass ich auch ja alleine war und sich niemand zwischen den Bögen und Säulen versteckte oder durch den Garten hineinsah. Weit und breit keine Seele in Sichtweite. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und ich legte die Fassade ab und stürmte auf ein Eck der Halle zu.

Natürlich könnte ich wie alle anderen auch den normalen Weg durch die Hallen und Gänge wählen - aber das würde zu lange dauern und das Risiko, jemandem in die Arme zu laufen, wäre zu groß.

Immerhin war ich das Mündel der Glaubensmutter. Die meisten fanden es auch so schon nicht gut, dass die Glaubensmutter vor Jahren ein wildfremdes Kind aufgenommen hatte, das sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern konnte - geschweige denn an Herkunft, Familie oder sonstige Umstände.

Immer musste ich vorbildlich sein, immer musste ich mit gutem Beispiel vorangehen, immer musste ich die Beste, die Klügste, die Intelligenteste, die Schnellste, die Artigste sein. Und ich hielt mich daran - ich gab mein Bestes und durch meine Neugier und meinen Wissensdrang musste ich nicht einmal Interesse heucheln.

Nur mit der Pünktlichkeit hatte ich es nicht so. Ich vergaß ständig die Zeit und verlor mich ganz in meinen Aufgaben, egal ob ich las, malte, schlief, schrieb oder putzte. Nur beim Beten war ich bisher immer pünktlich geblieben - aber das schien ab heute ebenfalls hinfällig.

Wie gut, dass ich bereits vor Jahren durch Zufall auf uralte Aufzeichnungen des Klosters gestoßen war, in denen Geheimgänge und versteckte Hallen eingezeichnet gewesen waren. Die Papiere waren leider bei meinen Erkundungsreisen zu Staub zerfallen, so alt waren sie gewesen, aber ich hatte mir eine eigene Kopie dessen angefertigt, die ich jederzeit mit mir herumtrug. Es war so etwas wie mein kleines Geheimnis, das mich davor bewahrte, endlose Standpauken und abfällige Blicke erdulden zu müssen.

Deswegen die Vorsicht, dass auch ja niemand zusah. Ich griff nach einem Kerzenhalter und zog leicht daran, wodurch ein leises Rums ertönte ehe sich eine Steinplatte zur Seite schob und eine kleine Türöffnung freilegte.

Lächelnd stieg ich in den Gang und drückte auf der anderen Seite gegen einen lockeren Ziegelstein, wodurch sich die Tür wieder schloss. Früher, als ich gerade einmal damit begonnen hatte die Gänge zu inspizieren, waren viele Verstecke ohrenbetäubend laut aufgegangen, wodurch ich jedes Mal das Gefühl gehabt hatte, mein Herz würde einen Moment stehen bleiben. Es war ein Wunder, dass es nie jemandem aufgefallen war und ich mich jederzeit mit albernen Ausreden hatte herauswinden können.

Daraufhin hatte ich damit begonnen, alles dafür in die Wege zu leiten, damit die Geheimtüren sich so leise wie möglich öffneten und schlossen. Das hatte bedeutet, Gesteinsbrocken umzuräumen, den Stein ein wenig abzuschleifen, einige Vorrichtungen zu ölen und zu waschen, und so weiter. Dinge, von denen ich ursprünglich nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, hatte ich mithilfe einiger Aufzeichnungen und Schriften schnell in den Griff bekommen.

Auf diese Weise war mein breit gefächerter Wissensdurst entstanden - ich beschäftigte mich mit allerhand Themen und Fachgebieten, die anderen absolut abwegig und unverständlich erschienen. Immerhin hatten viele von ihnen nicht direkt mit den geistigen Lehren zu tun, mit denen ich mich eigentlich abgeben sollte, aber da meine Leistungen unter meinen sonderlichen Lektüren nicht litten, hatte die Glaubensmutter trotz mehrfacher Proteste der Priester und Mentoren noch nie etwas dagegen unternommen.

Natürlich waren einige Geheimgänge auch unbrauchbar gewesen. Durch den Zahn der Zeit waren viele in sich zusammengestürzt, und bei anderen funktionierten Teile der Mechanismen nicht mehr, die ich trotz umfassender Recherchen weder repariert noch ausgetauscht bekam. Diese Gänge hatte ich mit einem Kreuz auf meiner Karte markiert - trotz ihrer Unbrauchbarkeit erkannte ich auf diese Weise, ob ich nicht doch noch einen Gang vergessen hatte zu untersuchen. Denn obwohl ich das Netz der Geheimtunnel bereits unzählige Male durchstreift hatte, stieß ich immer noch hin und wieder auf Verstecke, die nicht einmal auf der zerfallenen, uralten Karte vermerkt gewesen waren. Wortwörtlich versteckte Verstecke sozusagen.

Ich behielt eine Hand an der Wand, während ich mit der anderen eine Fackel entzündete und durch die dunklen Gänge schlich. Die Luft hier war noch stickiger als im Rest des Klosters, und der Boden war von einer dicken Staubschicht bedeckt, die lediglich ein und dieselben Fußspuren unterschiedlicher Größe aufwies: Meine Fußspuren.

Stumm zählte ich die Abbiegungen und abzweigenden Gänge während ich vorwärts ging. Ich war mittlerweile so oft diese Wege entlang gegangen, dass ich die Karte eigentlich nur noch hervorholte wenn ich auf einen neuen Geheimgang gestoßen war, den ich unverzüglich vermerken wollte bevor ich seine Existenz wieder vergaß.

Von der großen Halle aus war ich bisher noch nicht allzu oft gestartet - immerhin hatte ich bisher noch nicht oft in der Nähe der Gebetshallen die Zeit vergessen -, doch ich fand mich sehr schnell wieder zurecht.

Bei meinem Ziel angekommen blieb ich stehen und kramte die Karte hervor. Sicherheitshalber überprüfte ich die Anzahl der Gänge an denen ich vorbeigekommen war und rechnete nach. Mit einem knappen Nicken zu mir selbst steckte ich die Karte wieder ein und legte die Fackel auf den Boden. Nachdem ich sie ausgetreten hatte wurde ich von Dunkelheit umhüllt, doch ich wartete nicht bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten, sondern hob die gelöschte Fackel stattdessen auf und steckte sie in die Halterung neben der Tür.

Natürlich konnte ich von meinen Geheimgängen aus nicht wissen, ob sich auf der anderen Seite gerade eine Person aufhielt, der ich direkt in die Arme laufen würde, wenn ich die Tür zur falschen Zeit öffnete. Aber dafür hatte ich mir ebenfalls ein eigenes System ausgedacht: Ich kniete mich vor die Tür und griff nach der Spiegelscherbe am Boden. Dann schob ich sie ein klein wenig unter der Geheimtür hindurch und justierte sie eine Weile in alle Richtungen, ehe ich mir sicher sein konnte, dass niemand in der kleinen Kammer der Küche zugegen war.

Ich legte die Spiegelscherbe zurück an ihren Platz und betätigte den Hebel neben der Tür, woraufhin die Steinwand vor mir leise zur Seite glitt. Ich öffnete sie nur einen kleinen Spalt breit, gerade genug für mich, und ließ sie offen stehen nachdem ich in den Raum dahinter geschlüpft war.

Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust, obwohl ich das nun schon so oft getan hatte. Jedes Mal gab es mir von Neuem einen Adrenalinkick mich von Raum zu Raum zu schleichen, ohne dass jemand ahnte, wie ich es anstellte.

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