SIEBZEHN

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Er brauchte ziemlich lange.

Ich hatte keine Möglichkeit die Zeit einzuschätzen, aber es wurde immer kälter und ich wurde immer öfter von anderen Herren bedrängt. Jedes Mal lächelte ich und lehnte dankend ab, wenn mir jemand einen Tanz anbot. Jedes Mal entschuldigte ich mich höflich und bat die Person zu gehen, wenn mir jemand seine Gesellschaft aufdrängte.

Jedes Mal war es, als würden sie eine Maske fallenlassen. Die freundlichen, höflichen Gesichter erstarrten, und zum Vorschein kam eine spöttische, hassverzerrte Grimasse, die mich dann kühl anstarrte, ehe sie aus meinem Sichtfeld verschwand.

Es war jedem Novizen heute Abend gestattet, sich auf so viele Partner einzulassen, wie wir wollten. Solange alles in beidseitigem Einverständnis stattfand, gab es da keine Beschränkungen.

Und trotzdem wollte ich nach der intensiven Erfahrung des Tanzes, nach dem heißen, leidenschaftlichen Kuss...

Ich wollte nur noch ihn. Den Maskierten.

Allein schon der Gedanke, mich derart von jemand anderem berühren zu lassen, ließ Ekel in mir aufsteigen. Der Einzige, dem ich dies von nun an gestatten würde, wäre er.

Wenn er denn endlich einmal zurückkäme.

Nur Geduld, sprach ich mir selbst Mut zu. Vermutlich hatte ich ihn derart durcheinander gebracht, dass er sich erst einmal beruhigen wollte, ehe er mir wieder gegenübertreten konnte.

Ich klammerte mich an diese Worte, aber je mehr Zeit verstrich, desto dünner wurde dieses Rettungsseil, das mich vor dem düsteren Abgrund meiner schlimmsten Gedanken zu retten versuchte.

Ich wartete. Und wartete. Und wartete.

Ich wartete bis meine Nase anfing zu laufen.

Ich wartete bis der Wind mir eisig durch die Kleider fuhr.

Ich wartete bis die Glut in mir abgekühlt und von dem lodernden Feuer nichts mehr als Asche und Rauch verblieben waren.

Ich wartete bis meine Augen zu tränen anfingen.

Ich wartete bis sich die trübe Wolke meiner finsteren Gedanken zentnerschwer auf mir niedergelassen hatte.

Ich wartete bis die freudige, energische Musik der Tanzenden den ruhigen, liebevollen Liedern gewichen war, zu denen sich die Tanzenden liebevoll miteinander wiegten. Allein schon der Anblick ihrer freudigen, verzückten Gesichter ließ einen Dorn durch mein Inneres fahren. Ich sah schnell wieder weg.

Ich wartete, bis die Anzahl der Tanzenden sich nur noch auf eine Handvoll beschränkte, da die meisten sich zurückgezogen hatten, um an dunklen Orten eine ganz neue Stufe an Intimität kennenzulernen. Einige zogen sich auch gar nicht erst zurück - einige taten es einfach so, direkt hier, vor aller Augen. Als hätten sie die Welt um sich herum vergessen - und mit ihr das unfreiwillige Publikum.

Ich wartete bis meine Augenlider schwer wurden.

Ich wartete bis ich mir fröstelnd über die Arme strich und meine Zähne anfingen zu klappern.

Ich wartete bis der Wind meine Frisur gelöst hatte, bis ich so lange und eisern auf einen Punkt am Boden gestarrt hatte, dass ich in eine Art Trance verfallen war.

Er kam nicht.

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