NEUNZEHN

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Das angsteinflößende Klingeln hatte mich durch Straßen und Gassen, durch Wege und Pfade geführt und verstummte schließlich, als ich erneut in eine Gasse hineintrat.

So. Nun war ich also hier - wo auch immer hier war -, genau da wo mich das Klingeln oder was auch immer haben wollte. Und was sollte ich hier nun?

Ich blickte mich um. Die Gasse war schmal und eng, eine Sackgasse um genau zu sein - und außer einem Kistenstapel befand sich hier nichts aufsehenerregendes, wenn man von Unrat und Schmutz absah. Ich war gerade dabei, die Kisten zu untersuchen, als ich nahende Schritte hörte.

Irgendetwas sagte mir, dass ich mich verstecken sollte. Vielleicht war es Minas Warnung, die noch in meinem Kopf herumschwirrte, vielleicht war es meine Müdigkeit, vielleicht mein Wahnsinn, vielleicht mein gesunder - oder auch nicht so gesunder - Menschenverstand, vielleicht meine Intuition, vielleicht auch einfach eine Schnapsidee. Wer wusste das schon.

Ich huschte hinter die Kisten - zum Glück war der Stapel wirklich hoch und breit, sodass man sich dahinter verkriechen konnte - und wartete. Ich presste mich an die Wand hinter mir und versuchte möglichst flach zu atmen, während ich durch einen schmalen Spalt spähte um irgendeinen Überblick behalten zu können, wer sich da näherte.

Es dauerte gar nicht lang, bis ich die beiden sehen konnte. Zwei Personen - eine junge Frau und ein junger Mann. Beide waren objektiv betrachtet ganz hübsch, aber irgendetwas an dem Mann störte mich. Wann immer ich die Frau betrachtete und der Mann nur noch in meinem Augenwinkel zu sehen war, verzerrte sich irgendetwas an seiner Gestalt. So wie bei der Hohepriesterin zuvor - nur dass dieser Mann hier keine leuchtend roten Augen besaß.

Sie hielten sich an den Händen, sie huschten kichernd in die Gasse, und kaum hatten sie sie erreicht, gingen sie auch schon zur Sache. Das Licht hier hinten war schwummrig und dunkel, man konnte kaum etwas erkennen, und ich dankte stumm den Göttern für diese kleine Gnade. Ich wollte wirklich nicht miterleben, wie die beiden miteinander rummachten.

Sie hatte goldblonde Haare, so wie ich, das konnte ich von meinem Platz aus erkennen, und er hatte dunkle Haare, vielleicht braun oder schwarz. So wie der Maskierte. Die beiden küssten sich, ihre Hände waren überall, Stoff raschelte und riss.

Dann hielt er inne und bat auch sie, kurz innezuhalten. Das Ganze triefte vor Ironie. Die Frau hätte ich sein können - die Frau war ich gewesen, vorhin, nach dem Tanz. Und der Mann hätte der Maskierte sein können.

Mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, als er sich ein klein wenig von ihr löste. Er trug tatsächlich eine Maske - genauso geformt wie die des Maskierten.

Vielleicht war er es ja wirklich...

Ich kam jedoch gar nicht dazu, mir darüber allzu große Gedanken zu machen. denn kurz darauf geschah etwas eigenartiges - etwas, das ich nicht verstehen konnte.

Er flüsterte ihr etwas zu und... die Gesichter der beiden verschwammen und verzerrten sich. Nein, sein Gesicht verschwamm - es war, als würde sich die Maske auf seinem Gesicht kurzzeitig auflösen und zum Vorschein kam ein abstoßendes Gesicht mit Reißzähnen, milchig grünen Leuchtaugen und einem viel zu breiten Maul. Das da ähnelte nur noch sehr entfernt einem Menschen - und der Schock saß mir so tief in den Gliedern, dass ich unwillkürlich wieder anfing zu zittern. Ich rieb mir mehrfach über die Augen, aber das Bild blieb dasselbe.

Und dann...

Dann...

Ihr Gesicht verzerrte sich. Ich musste nicht in ihre Augen sehen können, um die Angst, die Furcht und die Abscheu darin erahnen zu können. Aber keine Sekunde verging, und es schien als... als hätte sie eine durchsichtige Maske über ihrem Gesicht getragen, und diese Maske würde sich nun lösen.

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