Den gesamten Weg über zurück nach Hause war ich in Gedanken versunken. So sehr ich es mir auch vorgenommen hatte - die vergangenen Geschehnisse ließen mich einfach nicht los.
Besonders die Eskalation der letzten Etappe - der Zeremonie bei Tagesanbruch.
Zuerst war alles ruhig gewesen. Mehrere Bürger hatten sich an die kleine Priesterschaft des lokalen Tempels gewandt, weil ihre Angehörigen von einer Nacht auf die andere spurlos verschwunden waren. Die Priester besänftigren jeden mit der Aussicht, sie würden bestimmt noch auftauchen und hätten nur irgendwo außerhalb übernachtet.
Aber ich hatte die brodelnde Stimmung im Inneren von Scintilla gespürt: Jeder hatte Angst. Wären es nur ein paar wenige Fälle gewesen, gut, dann hätten die Worte der Priesterschaft vielleicht Wunder gewirkt.
Jedoch fehlte ein ganzes Viertel der Bürger - und auch mehrere Novizen waren verschwunden, männlich wie weiblich, aber das kümmerte die Bewohner von Scintilla herzlich wenig. Letztendlich sah jeder nur, wo er selbst blieb - wie es den anderen erging war egal.
Niemand hatte etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Niemand hatte eine Ahnung, wo die verschwundenen Menschen wohl sein könnten. Auch dass man keine Leichen - nicht eine einzige - gefunden hatte, erregte Aufsehen.
Auch dass lediglich die Priesterschaft gesprochen hatte, und keine Spur von der Hohepriesterin zu sehen war, wirkte verdächtig.
Bei der offiziellen Zeremonie gestand die rangzweithöchste Priesterin, dass die Hohepriesterin tatsächlich ebenfalls verschwunden war - und verkündete im selben Atemzug, dass das keinerlei Auswirkungen auf die Teilnehmer der Ceremonia Ascendia hatte. Sie würden wie geplant zu Priestern erhoben werden und anschließend entweder in ihre Klöster zurückkehren - oder in die weite Welt aufbrechen.
Ich erinnerte mich noch gut daran, wie erleichtert ich gewesen war. Scheinbar war ich die einzige, die von den Bestien wusste - die einzige, die wusste, dass die verschwundenen Menschen wohl allesamt... seelisch gefressen worden waren. Ich wollte nur noch weg - nach Hause - und fort von diesem Albtraum.
Danach war eine Weile lang alles nach Plan verlaufen. Die Novizen waren aufgerufen und mit hochgestochenen Worten und großen Gesten in den Rang der Priesterschaft aufgenommen worden.
Dann war irgendwann ein Stein geflogen. Er hatte niemanden getroffen - noch war niemand verletzt worden. Aber ein wütender Schrei hatte sich aus der Menge gelöst. Es war eine Frau gewesen, mit hassverzerrtem Gesicht hatte sie zornig auf die Priester gedeutet. "Ihr Monster!", hatte sie geschrien und ihre Stimme hatte sich überschlagen. "Ihr habt uns unsere Kinder genommen! Ihr habt uns unsere Männer, Nachbarn, Frauen und Mitbürger geraubt! Tut nicht so scheinheilig!"
Genurnel hatte sich erhoben. Die Stadtwachen, ein kleiner Haufen unausgebildeter, erfahrungsloser Männer, hatten die Frau abgeführt. "Ihr wollt mich doch nur zum Schweigen bringen, weil ich die Wahrheit kenne! Eure ach so tolle Hohepriesterin hat uns unsere Kinder geraubt, um sie in eure Klöster und Tempel zu verschleppen!"
Sie wand sich und stolperte um Zeit zu schinden. Die Staftwache schleifte sie weiter. "Jeder weiß doch, dass ihr keine Kinder bekommen dürft - und dass ihr schon seit einer ganzen Weile weniger werdet! Die Zeit des Umbruchs ist gekommen, dass wir die Scheinheiligen und Machthabenden stürzen! Immerhin ist es ihnen doch egal, was mit uns geschieht, während sie scheinheilig in ihren kleinen Welten in allem Überfluss leben!"
Ihre Worte stimmten alle nachdenklich, aber noch immer regte sich niemand.
"Feiglinge! Ihr blinden Narren!", fluchte die Frau und es gelang ihr tatsächlich, einen Arm frei zu bekommen. Sie verlor keine Zeit, griff in die Tasche ihres Gewands und zückte ein Messer. Ein kollektives Aufkeuchen ertönte, während alle um sie herum erschrocken einen Schritt zurücktraten. Alle hatten denselben Gedanken: Die hat sie doch nicht mehr alle. Die ist verrückt - die ist bewaffnet. Die ist gefährlich. Mit der will ich nichts zu tun haben, die verspricht nur Ärger.

DU LIEST GERADE
VIRGO
Fantasy~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...