9 schlechte Laune

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Die restliche Woche verlief ruhig. Mittlerweile hatten sich die Spekulationen über die neue Schülerin etwas gelegt, Samiya saß nach wie vor zu den Malzeiten am Tisch der Wölfe, manchmal mit Shadow oder Wing, manchmal ohne. Sehr zur allgemeinen Verwunderung hatte es eine Art stilles Abkommen gegeben: Jeffrey ließ Samiya ohne viel Aufhebens einfach am Rudeltisch essen, dafür verschonte sie ihn mit ihren frechen Kommentaren. Eine klassische win-win-Situation, wie es Dorian so treffend nach Shadows Bericht formuliert hatte.

Es verstand zwar keiner so wirklich, was Samiya überhaupt am Tisch der Wölfe wollte, denn die restliche Zeit war sie nie mit ihnen zu sehen, aber irgendwann hatten sich einfach alle an den Anblick gewöhnt. Nur Miro suchte ab und zu Samiyas Nähe. In Verwandlung legte er sich gerne neben sie und ließ sich von ihr den Kopf kraulen. Das hatte den sehr positiven Nebeneffekt, dass Mr. Ellwood ihn dort praktisch vergaß – Samiya hatte immer noch ihre Rolle als stille Beobachterin in diesem Fach – was Miro natürlich sehr zu schätzen wusste.

Nur einer war alles andere als zufrieden mit der Situation, und das war Carag. Seit einer Stunde mindestens lag er nun schon in seinem Bett und konnte einfach nicht einschlafen. In seinem Kopf spukte ein gewisser sehr blonder Neuzugang mit grüngrauen Augen herum.

Bei ihren täglichen Treffen im Baumhaus hatten inzwischen alle seine Freunde die ein oder andere Sache über ein Gespräch, einen ausgeliehenen Stift oder einfach irgendwas mit Samiya erzählt. Nur kleine Dinge zwar (außer Holly, sie hatte wohl schon Stunden mit Samiya in diesem verfluchten Baum verbracht – naja, Hörnchen hatten wohl eine etwas andere Zeitwahrnehmung...) aber trotzdem. Henry saß ja die meiste Zeit sogar neben ihr in den Stunden und fand Samiya anscheinend ziemlich in Ordnung.

Er selbst hatte noch kein Wort mit ihr gewechselt, seit der Würstchenaktion auf den Felsen. Er verstand selbst nicht warum. Irgendwie war er nie dort, wo Samiya war. Oder sie war nie dort, wo er war. Das wahrscheinlich schon eher. Ging sie ihm aus dem Weg? Aber warum bloß? Er konnte sich nicht erinnern, dass er irgendwas getan hätte, um sie zu verärgern. Und das war gerade das Schlimme, er verstand es einfach nicht. Warum er? Warum wollte sie anscheinend nichts mit ihm zu tun haben? Oder war es Zufall? Hmm - wohl kaum. Sogar Juanita hatte wohl schon ein paar Worte mit Samiya gewechselt, weil sie irgendwie dasselbe Buch gelesen hatten. Und erst Jeffrey dieser unmögliche Kerl – da saß sie jeden Tag am Tisch mit ihm, obwohl er sie beinahe angegriffen hatte am ersten Tag. Naja okay, Angriff war vielleicht das falsche Wort. Trotzdem, warum ging sie IHM nicht aus dem Weg?

Je länger Carag über alles nachdachte, desto schlechter wurde seine Laune. Und er wusste auch warum: er fühlte sich ausgeschlossen. Da gab es jemanden, und alle hatten irgendwie Kontakt, mehr oder weniger, nur er nicht. Als hätten sich alle verschworen.

Und das Schlimmste war, da gab es irgendwas, er hatte das noch nie so gespürt, aber er hatte so ein Gefühl als ob er dringend mit ihr reden müsste. Oder zumindest in ihrer Nähe sein und herausfinden was das für ein Gefühl war. Es war ganz anders als das mit Lou. Lou war ihm von Anfang an aufgefallen, sie war einfach so sanft und gleichzeitig fand er sie richtig hübsch und nett und noch tausend andere Sachen.

Samiya kannte er eigentlich überhaupt nicht und trotzdem war da irgendwas, das er nicht verstand. Je mehr Zeit verging, desto schlimmer wurde sein Gefühl, dass er irgendwas versäumte...

Das konnte doch nicht so weitergehen. Frustriert schlug er seine Decke zurück und schlich zum offenen Fenster. Mit einem Satz war er draußen in der Nacht, seine Pfoten trugen ihn lautlos über die Stufen.

Die kühle Nachtluft tat ihm gut, so richtig hatte er sich nie an das Schlafen in einem Raum gewöhnen können, deshalb war auch meist das Fenster offen, außer Brandon litt wieder unter Erfrierungsangst.

Gerade überlegte er, ob er eine kurze Runde durch den nahen Wald streifen sollte, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Auf der anderen Seite der Felstreppe, dort, wo die meisten Mädchen ihre Zimmer hatten, stieg gerade ebenfalls jemand aus dem Fenster. Allerdings in Menschengestalt. Carag schärfte seine Sinne und gerade als dieser Nachtwandler die ersten Stufen nach unten kletterte, spiegelte sich das Licht des Mondes auf einem weißblonden Haarschopf. Das musste Samiya sein. Wo wollte sie denn hin? Noch dazu in Menschengestalt? Dass viele Schüler hier in zweiter Gestalt nachtaktiv waren, war allen hier bekannt, aber Menschen wanderten nachts normalerweise nicht so gerne in der Gegend herum, schon gar nicht alleine... Was also hatte SIE vor? Carag blieb erst mal wo er war und schmiegte sich dicht an den Felsklotz auf dem er sich grade befand, so war er fast nicht davon zu unterscheiden. Er wollte Samiya auf keinen Fall erschrecken. Dafür wollte er unbedingt herausfinden, was sie hier draußen machte. Oder sollte er sie lieber in Ruhe lassen und sich unbemerkt aus dem Staub machen? Andererseits, tagsüber schien sie ihm eh keine Chance auf Kontakt zu lassen, vielleicht war das jetzt ja DIE Gelegenheit?

Als Samiya schon die Hälfte der Wiese zwischen Gebäude und Waldanfang überquert hatte, setzte Carag besonders bedacht eine Pfote vor die andere und schlich langsam und völlig geräuschlos die Felsen hinunter.

***

Call of the wildWo Geschichten leben. Entdecke jetzt