20 Der Wolf und das Mädchen

252 20 37
                                    

Das Wäldchen am Rande des Schulgeländes war nicht sehr groß und auch nicht sehr dicht bewachsen. Es konnte eigentlich nicht so lange dauern, hier jemanden aufzuspüren. Jeffrey war zuversichtlich, dass er Samiya bald finden würde. Vorausgesetzt, sie war überhaupt hier...

Schnell verwandelte er sich, denn auch wenn er nicht genau sagen konnte, welche Witterung Samiya als Tier hatte, so konnte er sie auch in Menschengestalt als Wolf doch deutlich leichter finden.

Er umrundete gerade eine sehr krumm gewachsene Fichte, als sein Blick auf die wahrscheinlich größte und älteste Eiche hier fiel. Der Stamm musste einen Umfang von mehreren Metern haben und war am Boden so zerklüftet, dass sich schon kleine Höhlen gebildet hatten.

Als Jeffrey genauer hinschaute, sah er zwei Turnschuhe an der Seite des Stammes. Na also, da hatte er sie ja schon gefunden.

Samiya saß angelehnt an den mächtigen Stamm zwischen zwei dicken Wurzeln und starrte auf den Boden vor sich. Als Jeffrey näher kam blickte sie kurz auf, schloss dann die Augen und ließ ihren Kopf mit einem kleinen Seufzer nach hinten an den Stamm sinken.

Der große Timberwolf beschloss, erst mal gar nichts zu sagen und legte sich einfach auf die nächste dicke Wurzel, dieser Stamm hatte ja genug davon. Er war im Moment einfach nur erleichtert, dass er Samiya so schnell gefunden hatte.

Was willst du Jeffrey?' Das Mädchen neben ihm rührte sich nicht, sie hatte immer noch die Augen geschlossen. Sie klang nicht unfreundlich, immerhin etwas.

Eigentlich nichts, ich wollte nur wissen, wohin du verschwunden bist.' Jeffrey legte seinen Kopf auf seinen Vorderbeinen ab und musterte Samiya unauffällig. Er hatten selten jemanden mit so hellblonden Haaren gesehen. Dann noch so verstrubbelt. Seine Mutter hätte Samiya vermutlich zum nächsten Friseur geschleppt, noch bevor sie ihren Namen überhaupt hätte sagen können. Gut, dass er sie nicht wirklich eingeladen hatte, oder? Jeffrey musste innerlich schmunzeln als er sich die Situation vorstellte...

Eine Weile war es ganz still, nur das übliche Piepen eines Vogels war hier und da zu hören. Doch dann öffnete Samiya die Augen und begann, ein kleines Stück Rinde zwischen ihren Fingern in Krümel zu zerlegen.

Hast du Holly und Carag zufällig gesehen, als du raus gekommen bist?' Sie schaute Jeffrey nicht an, während sie ihre Frage in seinen Kopf schickte.

Ja hab ich. Sie saßen alle zusammen, die üblichen Verdächtigen.' Der Wolf grub seine Krallen ganz leicht in den weichen Waldboden – er liebte dieses Gefühl.

Samiya lächelte kurz, sie schien sehr zufrieden mit seiner Antwort.

Sag mal, was ist denn eigentlich los mit euch? Carag ist auch so komisch drauf die letzten Tage, er will nicht mal mehr mit mir streiten. Was hat er denn angestellt?' Jeffrey war nun doch neugierig genug, Samiya endlich auf die ganze komische Sache anzusprechen.

Er hat ja gar nichts angestellt...' Samiya stieß einmal lange die Luft aus. So, als hätte sie mit sich selbst keine Geduld mehr.

Das kenne ich. Mich regt er auch schon auf, wenn er einfach bloß da ist...' Jeffrey musste lachen, allerdings sah es als Wolf eher wie Zähnefletschen aus. Aber Samiya spürte sein Lachen ja in ihrem Kopf. Sie schüttelte unmerklich selbst den Kopf und ein ironisches Lächeln erschien in ihren Mundwinkeln. Irgendwie lag Jeffrey mit seiner Aussage näher an der Wahrheit, als er selbst wohl je vermutet hätte. Denn genau so war es ja. Carag brachte sie mit seiner bloßen Anwesenheit an den Rand der Verzweiflung. Einfach nur, weil er eben war, wie er war.

Eigentlich bin ich selbst an allem schuld...' Samiya schaute Jeffrey kurz an, dann schaute sie wieder auf den Boden.

Ich wollte nicht, dass es hier so ein Chaos wegen mir gibt.'

Call of the wildWo Geschichten leben. Entdecke jetzt