Call of the wild

80 Hast du schon mal jemanden geküsst?

Samiya konnte jedes kleinste Detail, jeden kleinen grün-goldenen Sprenkel in Carags Augen sehen. Warum schaute er denn gar nicht weg? Er blinzelte ja nicht mal... Tausend Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum und gleichzeitig war sie sich so unsicher, was hier eigentlich gerade vor sich ging. Was hatte dieser seltsame Ausdruck in seinem Blick zu bedeuten? War das Neugier? Oder Anspannung? Wollte er vielleicht... Samiya bekam eine klitzekleine Gänsehaut im Nacken und auf einmal formte ihr Mund Worte, über die sie bewusst nie nachgedacht hatte.

„Hast du schon mal jemanden geküsst?"

Oh Gott – hatte sie das jetzt wirklich gerade laut gesagt?!

„Was?!" Carag vor ihr starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Was war nur mit ihr los?! Wie konnte sie ihn so etwas fragen?! Schnell trat Samiya einen Schritt zurück und hielt sich die Faust vor den Mund. Am liebsten hätte sie sich auf die Hand gebissen, so blöd kam sie sich vor. Schnell schüttelte sie den Kopf.

„Entschuldige! Ich weiß gar nicht... ach vergiss einfach, was ich eben gesagt habe!" Samiya stieß einmal tief die Luft aus. Aber es half nicht, dieses unangenehme Gefühl, das jetzt irgendwo zwischen ihnen hing, zu vertreiben.

„Ich glaube ich geh jetzt lieber. Genau..." Mit einem letzten entschuldigenden Blick in Carags Richtung drehte sie sich um und verschwand dann so schnell zwischen den Büschen, dass Carag seine Stimme erst wiederfand, als Samiya schon nicht mehr zu sehen war. Sein leises „Warte doch!" hörte sie wohl schon nicht mehr.

Langsam lenkte Carag seine Schritte auf den Waldrand zu. Gerade als er freie Sicht auf die Wiese hatte, sah er einen silbrig-hellen Puma übers Gras flitzen. Da hatte Samiya sich wohl irgendwo im Gebüsch verwandelt. Carag überlegte, ob er ihr ebenfalls in Pumagestalt folgen sollte, entschied sich aber dagegen. Offensichtlich wollte sie gerade nicht mit ihm reden.

Aber was war denn da eben nur passiert?! Allein wenn Carag an die Situation vorhin im Wald dachte, begann sein Herz schon wieder schneller zu schlagen. So nah war er Samiya noch nie gewesen, zumindest nicht als Mensch... Hatte er das Pumamädchen tatsächlich küssen wollen? Er war auf jeden Fall kurz davor gewesen, so viel stand schon mal fest. Ein kleines Lächeln schlich sich in Carags Gesicht. Er hätte sie geküsst, zumindest, wenn er jetzt so darüber nachdachte.

Vorgestellt hatte er sich diesen Moment schließlich schon oft genug in letzter Zeit. Aber wäre es der richtige Moment gewesen? War Samiya denn bereit dafür? Wollte sie überhaupt, dass er sie küsste? Vielleicht war es ja ganz gut, dass sie ihn mit dieser seltsamen Frage unterbrochen hatte, womöglich hätte er sie beide in eine total unangenehme Situation gebracht. Hatte sie denn schon einmal jemanden geküsst? Das war natürlich eine Frage, die ihn brennend interessierte! Wenn das ihr erster Kuss gewesen wäre... Oh Mann, vielleicht war sie einfach noch nicht bereit dafür? Aber wie sollte er herausfinden, ob sie ihn auch so mochte, wie er sie? Er musste das einfach wissen...

***

Jeffrey lag auf einer der großen Stufen auf der Rückseite des Schulgebäudes, seine Vorderpfoten weit von sich gestreckt, und schaute in den Himmel. Heute war die Nacht besonders klar und er liebte es einfach, die Sterne und vor allem natürlich den Mond zu beobachten. Leider war noch kein Vollmond, aber viel fehlte nicht mehr. Gerade als er aufstehen wollte, um langsam doch den Weg zurück in sein Bett zu finden, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung war. Schnell schaute er genauer hin und erkannte einen ganz bestimmten Puma, das Fell silbrig schimmernd im Mondschein. Samiya. Was machte sie denn noch hier draußen? Sah ja ganz so aus, als wäre sie im Wald gewesen? Aber alleine? Keine Spur von seinem anderen, ganz besonderen Pumafreund?

Jeffrey versuchte das Pumamädchen in Gedanken zu erreichen.

‚Samiya? Hey!' Sie war jetzt nicht mehr weit entfernt und er konnte sehen, wie ihre Ohren kurz in seine Richtung zuckten. Dann schlug sie einen kleinen Haken und lief in einem Bogen auf die andere Seite des Gebäudes zu. Was war denn da los? Jeffrey war zu neugierig um jetzt einfach wieder nach drinnen zu gehen. Mit ein paar federnden Sprüngen hatte er die Steinstufen überwunden und folgte dem hellen Puma leichtfüßig. Er versuchte es nochmal mit einem Ruf.