35 Tag- oder Abendträumer

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Samstag Abend kam viel zu schnell für Carag. Die Stunden waren wie im Flug vergangen, während er mit Samiya durch die Wälder längs des Flusstals gestreift war. So musste ein Tag im Leben eines Pumawandlers aussehen. Sie waren auf Bäume geklettert, hatten sich immer wieder zusammen ausgeruht – Katzen waren schließlich Genießer – auch wenn Samiya anscheinend nicht so viel von der Ruhe hielt wie er – hatten gejagt, aber nur ein wenig, und immer wieder gespielt. Genau so, wie alle jungen Raubkatzen spielen. Dabei lernten sie sich immer besser kennen. Carag lernte, Samiya einzuschätzen: sie provozierte furchtbar gerne, sie probierte sich gerne aus, sie testete, wie weit sie gehen konnte, bevor es dem anderen zu viel wurde, aber alles in allem, war es ihr gar nicht so wichtig, zu gewinnen oder die Stärkere zu sein. Sie hatte nicht diesen Ehrgeiz, den Carag eigentlich überall hatte, egal was er tat. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, ihm hin und wieder zu zeigen, dass sie durchaus ihre Grenzen ziehen konnte. Und sie war eine Meisterin der Überraschung. Wenn Carag heute eines über Samiya herausgefunden hatte, dann das.

Und er hatte auch etwas über sich selbst heraus gefunden: dass es nämlich manchmal gar nicht so wichtig war, zu gewinnen oder der Stärkere zu sein. Manchmal war es viel schöner, einfach nachzugeben. Dann entstanden diese einzigartigen Momente, in denen er so viel Neues entdeckte. Ein paar solcher besonderer Momente hatte es gegeben, als Samiya ihm entgegen sprang, und er sich einfach von ihr hatte umwerfen lassen. Kein Widerstand, kein Ausweichen und Gegenangriff. Dann blieb sie einen kurzen Moment etwas überrascht über ihm stehen, blickte ihn neugierig oder leicht verwundert an – und sprang dann zurück, um ihm die Verfolgung oder den nächsten Sprung zu überlassen.

Das waren die Momente, mit denen Carag nun in seinen Gedanken versunken war, während alle um ihn herum mit ihrem Abendessen beschäftigt waren. Samiyas große, grün-grau-blauen Pumaaugen tauchten in seinem Kopf auf, wie sie ihm in manchen Momenten so nahe gewesen war. Und immer wieder musste er einen kurzen Blick über den Tisch riskieren, um zu sehen, dass sie wirklich wirklich diese Farbe hatten.

Von den Schülern war dieses Wochenende nur ein kleines Häufchen übrig geblieben, so saß er mit Dorian, Holly, Samiya und Miro an einem Tisch. Samiya aß sogar mit noch mehr Heißhunger als sonst – klar, sie hatten den ganzen Tag nicht soo viel gegessen, er selbst war seltsamerweise trotzdem gar nicht so hungrig...

Die Erinnerungen an diesen Tag ließen ihn einfach nicht los. Er hatte sich selten so lebendig gefühlt und so viel Spaß gehabt. Ein bisschen erinnerte es ihn an die Tage mit Mia zu Hause in den Bergen, sie hatten genau so gerangelt und gespielt, nur war es mit Samiya doch ein kleines bisschen anders. Mit seiner Schwester war es sehr vertraut gewesen. Und es ging tatsächlich mehr ums gegenseitige Kräftemessen. Mit Samiya hatte er ein anderes Gefühl. Mehr Abenteuer. Viel mehr Neugier und Aufregung und dieses seltsame Gefühl, das er in ihrer Nähe von Anfang an gehabt hatte. Das Gefühl, dass da noch mehr war, Dinge, von denen er nichts wusste und die doch irgendwo in seinem Innersten schlummerten...

„Carag? Huhu, träumst du?" Das war Hollys Stimme. Hatte sie was gesagt? Peinlich, peinlich, er hatte wirklich gar nichts mitbekommen...

„Was? Was ist?"

„Also echt. Bist du neuerdings unter die Tagträumer gegangen?" Holly schenkte Carag einen skeptischen Blick.

„Wohl eher Abendträumer," warf Dorian mit einem amüsierten Grinsen ein.

„Jedenfalls haben wir grade überlegt, ob wir alle zusammen im Baumhaus übernachten wollen, die anderen Wölfe sind alle weg und Miro will nicht alleine schlafen...Was sagst du?" Holly spießte sich die letzten Reste auf ihre Gabel und ließ sie im Mund verschwinden.

„Sag ja Carag, mit euch allen im Baumhaus kann ich viel besser schlafen als alleine im Zimmer!" Miro packte sein letztes Fleischbällchen mit den Fingern – Messer und Gabel waren noch nicht seine besten Freunde geworden – und schob es sich in den Mund. Ausnahmsweise hatte er es heute Abend als kleiner Junge zum Essen geschafft, aber nur, weil Holly und Dorian schon den halben Nachmittag mit ihm Tischkicker gespielt hatten.

„Klar warum nicht." Carag beäugte seinen noch fast vollen Teller. Vielleicht sollte er doch noch etwas essen, sonst müsste er mitten in der Nacht noch auf die Jagd gehen. Oder hungrig schlafen...

„Juchuu! Wir alle zusammen im Baumhaus! Das wird so cool!" Cool war Miros neues Lieblingswort. Das hatte er von Cliff aufgeschnappt und seitdem kam es verlässlich zum Einsatz. Voller Vorfreude hampelte er auf seinem Stuhl herum, bis dieser schließlich nach hinten umkippte und Miro sich vor Schreck verwandelte. Kurz jaulte er erschrocken auf, doch dann wuselte er schon wieder um den Tisch herum. ‚Wann gehen wir endlich los, hm? Seid ihr denn mal fertig?'

Carag warf einen kurzen Blick zu Samiya, war sie auch dabei? So wie Miro sich freute, war es anzunehmen. Jetzt ärgerte es ihn, dass er wegen seiner Träumerei die ganze Unterhaltung verpasst hatte. Er hatte gar nicht gewusst, dass man so in Gedanken versunken sein konnte...

Holly spielte inzwischen schon Fangen mit dem kleinen Wolf, doch ein Anderer am Tisch hatte Carags Seitenblick durchaus bemerkt. Und auch die Träumerei zuvor. Dorian musterte seinen großen Katzenkollegen mit einem unscheinbaren, amüsierten Lächeln im Mundwinkel. Er fragte sich, ob Carag – als Junge – überhaupt wusste, was hier vor sich ging? Samiya schien jedenfalls ziemlich ahnungslos – sie hatte bereits ihre zweite Portion auf dem Teller und sah nicht so aus, als hätte sie vor, irgendetwas davon übrig zu lassen. Ganz im Gegensatz zu Carag – der fing erst jetzt an, mit wenig Appetit auf seinem Teller herumzustochern...

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Call of the wildWo Geschichten leben. Entdecke jetzt