Noch nie hatte sie den See zu dieser Tageszeit von diesem Standpunkt aus betrachtet. Und erst das Schloss. Es war fast der Blickwinkel, den sie damals gehabt hatte, als sie mit dem Boot das allererste Mal in Richtung des Schlosses gefahren war. Die Sonne brachte die steinernen Mauern zum Leuchten und es sah aus, als bestünden sie aus Gold. Es war unglaublich.
Langsam ließ sie ihren Blick streifen und stutzte. Nicht unweit von der Stelle, an der sie stand, sah sie einen dunklen Fleck, gut verborgen durch das Schilf, aber trotzdem nicht gänzlich unsichtbar. Ihre Neugier war geweckt. Sie kämpfte sich zurück durch das Schilf auf den Weg und ging zielstrebig auf die Stelle zu. Sie war doch nicht so nahe, wie Liz vermutet hatte, aber nach geschlagenen zehn Minuten hatte sie sie erreicht.
Unschlüssig besah sie die schmale Schneise, die bereits in das Schilf geschlagen wurde, als jemand sich seinen Weg dadurch gebahnt hatte. Sie war so unglaublich neugierig, aber gleichzeitig wollte sie niemanden stören. Schließlich siegte ihre Neugier und sie schob die langen Halme beiseite.
An dieser Stelle stand das Schilf sogar noch dichter und so hatte sie eine Weile zu kämpfen, bis sich das Grün vor ihr Lichtete und sie vor Überraschung die Augen aufriss. Es war ein Steg. Er war schmal, reichte nicht besonders weit in den See und war von dem Schilf vor neugierigen Blicken geschützt. Allerdings schien er zu einer Zeit errichtet worden zu sein, in der der Wasserpegel des Sees deutlich höher gewesen war. So ragten die Pfeiler, die ihn stützten, etwa einen Meter aus dem Wasser.
Trotzdem sah der Steg sehr stabil aus. Ihr Blick blieb an der Person hängen, die am Ende dieses Steges saß, mit dem Rücken zu ihr und die Beine über dem Wasser schwebend. Seine Schultern bebten und Liz war sich sicher, dass er weinte. Vorsichtig ging sie näher, wollt sich neben ihn setzen, als ihr das schwarze Haar auffiel, dass es in Hogwarts nur ein einziges Mal gab. Vor Schreck erstarrte sie und wollte dann langsam zurückweichen, als er sich umdrehte und sie ausdruckslos ansah. Mist.
"Miss Colan." Eine Feststellung. Unsicher sah sie ihn an. Sie fühlte sich unwohl. Steif stand sie an da und wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie hatte sich getäuscht. Scheinbar war er einfach nur seinen Gedanken nachgegangen. "Sir." Erwiderte sie stockend. Er quittierte dies mit einem Nicken und drehte sich wieder um. Sie fühlte sich unwohl, wie sie dort sinnlos in der Gegend herumstand und trat von einem Fuß auf den anderen.
Einen Moment später drehte er sich wieder um und sah sie genervt an. "Weshalb auch immer sie hier sind, lassen sie sich von mir nicht stören." Mit diesen Worten drehte er sich wieder um und ignorierte sie. Wenn sie jetzt wieder ging, dann wäre es echt komisch, also betrat sie den Steg und setzte sich ebenfalls mit so viel Abstand wie möglich auf den Steg. Wäre sie doch lieber gegangen, denn ihr wurde klar, dass es langsam dunkel wurde und sie hatte wenig Lust, den ganzen Weg in vollkommener Dunkelheit zu laufen.
Doch sie saß nur wenige Minuten schweigend da, denn ihm schien die Ruhe plötzlich ebenso viel Unbehagen zu bereiten, wie ihr. "Es scheint ihnen wieder besser zu gehen." Überrascht drehte sie sich, um sicherzugehen, dass diese Worte wirklich von ihm stammten. Schließlich nickte sie. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
Außerdem irritierte sie etwas. Etwas war anders als sonst. Er schaute ihr nicht in die Augen beim Reden. Es war etwas, was sie eigentlich immer als unangenehm empfunden hatte, jedoch irritierte sie es nun, dass er ihrem Blick auswich. Aber warum? Er schaute jedem beim Sprechen in die Augen, was viele Schüler gruselig fanden, aber jetzt störte es sie. Irgendetwas war anders als sonst.
Da fiel es ihr auf. Seine Maske bröckelte an manchen Stellen. Sein Gesicht hatte den gleichen Ausdruck wie immer, aber in seinen Augen sah sie Schmerz und Trauer. Wie ein Faustschlag traf sie die Erkenntnis. Deshalb saß er hier. Sie hatte sich schon gewundert, dass ausgerechnet er auf dem Boden, auf einem Steg saß und die Füße baumeln ließ. Er hatte definitiv nicht mit irgendeinem Besucher gerechnet.
Aber was war so stark, dass es sogar den Tränkemeister, der für seine Emotionslosigkeit schon fast berüchtigt war, derart aus der Fassung bringen konnte? Er bemerkte ihren Blick und seine Augen nahmen wieder ihren Normalen Ausdruck an. Der Schmerz verschwand aus ihnen, nur den traurigen Schleier, den konnte er nicht verbergen. Er wandte den Blick ab. "Gehen sie zum Schloss. Sonst kommen sie zu spät zum Essen." War alles, was er noch sagte.
Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit, dass er ihr weiteres Nachsitzen aufbrummte, ignorierte sie seine Aufforderung und sah ihn weiter an. Sie wusste, dass es furchtbar dumm war, aber irgendwie tat er ihr leid. "Ist alles in Ordnung bei ihnen?" Ausdruckslos sah er sie an. Schnell fügte sie ein "Sir" an. Sie wollte gerade aufspringen und gehen, da ihr das Ganze zu unangenehm wurde, als er antwortete.
"Alles bestens." Jedoch nahm sie das leichte Zittern seiner Stimme wahr. Was brachte diesen Mann derart aus der Fassung? Er, der sonst niemals seine Maske fallen ließ? Er hatte sich von ihr abgewandt und starrte auf den See. "Gehen sie." Wiederholte er. Vorsichtig rutschte sie ein Stück näher und streckte ihre Hand aus und legte sie auf seinen Arm. Sie wusste, dass sie das hier später bereuen würde, aber irgendwie tat er ihr leid.
Wie erwartet schlug er ihre Hand weg und sah ihr in die Augen. "Es geht mir bestens." Wiederholte er. Nur das leichte Schwanken seiner Stimme verriet die Lüge. So schnell würde sie nicht aufgeben. Sie konnte es erstens nicht leiden, wenn man sie anlog und zweitens hatte sie sich eh schon in diese Lage gebracht. So einfach würde sie nicht davonkommen, vor allem nicht bei ihm. Genau deshalb legte sie jetzt ihren Arm erneut auf seinen Arm und zwang ihn so, in ihre Augen zu sehen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wusste genau, dass sie für das hier würde büßen müssen.
Die plötzliche Nähe war ihm zu viel. Er konnte das nicht. Nein, er wollte das nicht. Er sprang auf und richtete seine Robe. Das ging zu weit. "Gehen sie jetzt SOFORT zum Schloss oder ich werde sie höchstpersönlich zum Schulleiter zerren und dafür sorgen, dass sie so bald nicht mehr auf dem Schulgelände herumstreifen. Zwanzig Punkte Abzug für sie. Sie haben sich mehrfach einer eindeutigen Anweisung widersetzt. Und jetzt verschwinden sie endlich!"
Einen Moment starrte sie ihn einfach nur an. Das hatte sie nun davon. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte durch das Schilf zurück. Den Weg zum Schloss hatte sie im Rekordtempo hinter sich. Wütend stampfte sie in die große Halle und ließ sich neben Lynne auf die Bank fallen. Der Abend war für sie gelaufen. Dabei wusste sie nicht mal, ob sie jetzt auf sich oder auf Snape sauer war.
Mit beiden Händen raufte er sich die Haare. Wie blöd war er eigentlich. Er hatte sie weggeschickt. Schon wieder. Dabei hätte er etwas Gesellschaft so gut gebrauchen können. Er war ein Idiot. Wobei das nichts neues war. Das hatte er auch schon vorher gewusst. Vielleicht war auch genau das der Grund gewesen, aus dem er sie weggeschickt hatte. Er verdiente keine Gesellschaft. Er war ein schlechter Mensch, der seinem Umfeld nur Unglück brachte.
Lilys Tod war das beste Beispiel dafür. Lily. Ein Schluchzen drang aus seiner Kehle. Er ließ sich auf die Knie sinken und ergab sich seiner Machtlosigkeit, seiner Trauer und seiner Verzweiflung. Er hätte sie in der Nacht nicht aufsuchen sollen. Sein schlechtes Gewissen war stärker denn je. Wenigstens bewies dies, dass in ihm doch noch ein Funke Menschlichkeit schlummerte, dachte er sich grimmig, bevor er sich wieder hinsetzte. Das würde eine lange Nacht werden.
Es war längst dunkel und nur wenige Sterne waren am Himmel zu sehen, als die dunkle Silhuette des Tränkemeisters sich schließlich in Richtung Schloss bewegte und schließlich hinter den großen Flügeltüren des Eingangs verschwand. In wenigen Stunden würde die Sonne am Horizont erscheinen und aus der Nacht wieder Tag machen.
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Shades of Darkness - Severus Snape
FanfictionWarst du jemals verliebt? Die eher introvertierte Liz würde diese Frage mit nein beatworten. Mit einer klaren Vorstellung ihrer Zukunft und dem sich nähernden Abschluss vor Augen will sie sich einfach nur auf die Schule konzentrieren. Die jüngsten E...