Die Überlebenden | Kapitel 40.

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Die Überlebenden | Kapitel 40.

Lydia

Erneut kullerten Tränen ihre bereits geröteten Wangen hinunter, ehe sie ihren Blick von ihm abwandte. Sie konnte ihn beim besten Willen nicht länger ansehen, denn sein eigentlich so ansehnliches und hübsches Gesicht war erneut von Hass geprägt. Seine Augen, die sie gestern Abend noch so sehnsüchtig angestrahlt hatten, schienen immer dunkler zu werden, je länger er sie betrachtete. Sie bohrten sich durch Lydia hindurch, bereiteten ihrem Körper Gänsehaut und ließen ihr Herz unerträglich schwer werden.

Lydia spürte, wie ihre Knie allmählich zu zittern begann, der Schock saß noch immer tief in ihren Knochen und sie hatte große Mühe, ein Schluchzen zu unterdrücken. Eigentlich müsste sie sich doch schon längst an diese blutrünstige Seite von ihm gewöhnt haben. Wieso also war sie dann erneut so enttäuscht von ihm? Wann würde sie endlich begreifen, dass Gwi-nam wirklich so war, wie er es vorgab? Sie konnte sich noch gut an diesen einen Moment erinnern, in dem Gwi-nam sie angesehen hatte und ihr mit seinem ehrfürchtigen Blick das Gefühl gegeben hatte, dass sie das schönste Mädchen der Welt sei. Seine Augen hatten sie angestrahlt, seine Gesichtszüge waren weich gewesen und sein süßes, schüchternes Lächeln war zum Dahinschmelzen.

»Wenn du jetzt gehst …!« begann Gwi-nam mahnend mit gefletschten Zähnen, während er mit seinem Messer in ihre Richtung zeigte. Zögerlich blickte Lydia noch einmal zu ihm, starrte auf die Spitze der Klinge, die er entschlossen auf sie richtete, ehe ihr Herz immer schwerer wurde. Man könnte meinen, er würde seine folgenden Worte noch einmal gründlich überdenken, denn seine zuvor hasserfüllte Miene wurde weicher. Natürlich wollte er, dass sie bei ihm blieb, schließlich war sie sein Spielzeug. Gwi-nam würde sie weiter quälen und verhöhnen, bis er sie früher oder später schließlich qualvoll töten würde.

Lydia zögerte nicht länger, sie wollte ihrem Alptraum ein Ende setzen. Noch ein letztes Mal schaute sie mit glasigen Augen zwischen den beiden Jungs hin und her, ehe sie entschlossen durch die Tür des Direktors stürmte und in den langen Schulflur flüchtete. Kaum fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, schlich sich ein trauriges Lächeln auf ihr noch immer verheultes Gesicht. Der Weg vor ihr war frei, nicht ein Infizierter war zu sehen oder gar zu hören, das war also ihre Chance, ihre neu gewonnene Freiheit auszukosten und sich in Sicherheit zu wagen. Lydia rannte los, so schnell sie konnte und so schnell ihre kurzen Beine sie tragen konnten. Was hatte Cheong-san noch gleich gesagt? Sie sollte ins Studio? Zu den anderen? Das bedeutet ja dann, dass noch andere überlebt haben, oder nicht? Ihr trauriges Lächeln verblasste und wurde sogleich durch ein freudiges Grinsen ersetzt. Das Mädchen rannte voller Tatendrang bis zum Ende des langen Flures, ehe sie die ersten Stufen der Treppe hinauf stürmte. Die ersten Stufen waren für sie noch recht einfach zu händeln, denn auch dort befand sich weit und breit kein Infizierter.

Vorsichtig schlich sich das Mädchen durch den langen Flur des ersten Stockwerkes, ehe sie dazu veranlasst wurde, in ihrer Bewegung innezuhalten. Sofort verharrte sie abrupt in ihrer Bewegung, als sie heimlich um die Ecke spähte und einige Infizierte nicht weit von sich entdeckte. Lydia schluckte schwer, als sie erneut einen Blick um die Ecke warf. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis die Infizierten sie entdecken würden. Erst jetzt wurde dem Mädchen schlagartig bewusst, dass sie nicht einmal die leiseste Ahnung davon hatte, wo sich das Studio mit den anderen Überlebenden überhaupt befand. War das Studio im ersten Stockwerk? War es neben dem Kunstraum? Lydia wusste es nicht und allmählich machte sich erneute Panik in dem Mädchen breit. Erneut war sie den Tränen nahe vor Verzweiflung und noch immer hoffte sie inniglich, schnellstmöglich aus diesem Alptraum zu erwachen. Jedoch wusste Lydia tief in ihrem Inneren, dass das Ganze kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Die Trauer und Verzweiflung, diese Hoffnungslosigkeit, all diese Gefühle waren echt genau wie alles andere.

All Of Us Are Dead | Nur dieses eine Leben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt