Kapitel Drei: Entscheidung

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A V E R Y


Mit geweiteten Augen stehe ich vor meinem Haus und kann nicht fassen, was ich da gerade gehört habe. Es fühlt sich unwirklich an, als hätte Connor einen schlechten Scherz gemacht. Aber das würde er nicht tun, oder? Immerhin habe ich ihm von Nathaniel erzählt und alles andere was damals passiert ist.

Connor weiß, wie sehr ich gelitten habe, als er klanglos und ohne Abschied verschwand. Nathaniel hat mich mit so vielen Fragen zurückgelassen. Mein Verlobter weiß, dass ich am Boden zerstört war, monatelang um meinen besten Freund geweint habe, bis keine Tränen mehr meine Wange runter kullern wollten. Meine ganze Familie weiß, wie sehr ich mich damals verloren habe, in ein tiefes Loch gefallen bin und nicht eine Sekunde dagegen angekämpft habe.

Es war mir egal, dass mich die Dunkelheit einnimmt. Dass sie meinen Verstand mit diesen düsteren Gedanken verseucht hat, sodass alles Positive in den Hintergrund gedrängt wurde. Jahre habe ich gebraucht, um wieder von vorn beginnen zu können. Es war nicht leicht dieses Kapitel in meinem Leben abzuschließen und hinter mir zu lassen, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ehrlich gesagt, will ich mir nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte ich es weiterhin zugelassen.

»Wo ist dieser Brief?«, verlange ich zu wissen.

Mein Verlobter zuckt bei meiner Stimme sichtlich zusammen, was ich ihm nicht verübeln kann. Sie hört sich rau und voller Schmerz an, den ich seit langer Zeit nicht mehr gespürt habe. Das hat sich jedoch geändert, als ich seinen Namen und die Bedeutung dieser Worte vernommen habe. Die Schublade wurde mit einem Ruck wieder geöffnet, die ich in der hintersten Ecke meines Verstandes versteckt habe.

Zehn Jahre hat er gebraucht, um sich bei mir zu melden. Zehn Jahre lang hat er sich verkrochen und es nicht für nötig gehalten, mir zu schreiben. Zehn verdammte Jahre sind vergangen, seit dem ich ihn nicht mehr gesehen habe und jetzt plötzlich schreibt er mir einen Brief?

»Komm mit, Avery. Er ist im Wohnzimmer. Aber zuerst will ich wissen, wie es dir geht? Du siehst blass aus.«

Ist das sein Ernst? Ungläubig blicke ich ihn an, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. Mir ist klar, dass sich Connor um mich sorgt und ich in diesem Moment nicht fair zu ihm bin, aber leider kann ich nicht anders. All die Erinnerungen prasseln wie eine Lawine auf mich ein, nehmen mir die Luft zum Atmen und hilflos schaue ich um mich herum. In meinen Augen kann er den Hilfeschrei erkennen, den ich nicht laut aussprechen kann. Mein Körper verlangt nach dem Halt, den nur er mir geben kann.

Sofort macht er einen Schritt auf mich zu, schließt fest seine Arme um meine Taille und drückt mich an seine harte Brust. Unverzüglich durchströmt sein Duft meine Sinne und lässt mich automatisch meine Augen schließen. Wir bleiben so lange hier stehen, bis sich meine Atmung normalisiert hat.

Connor ist mein Ruhepol. Mein Fels in der Brandung.

»Geht es wieder?«, flüstert er mir leise ins Ohr und streicht dabei mit der Hand über meinen unteren Rücken. »Ja. Danke dir, Darling«, presse ich mühsam hervor.

»Keine Ursache. Komm, gehen wir ins Haus, damit ich dir erstmal eine Tasse Tee koche und dann reden wir. Ist das okay für dich?«

Leicht nicke ich Connor zu, weil ich meiner Stimme noch nicht vertraue. Eben hat sie mich wieder erschreckt, da sie sich wirklich schrecklich anhört. Seine Arme sind noch immer fest um meinen Körper umschlungen, als wir zusammen in das Haus eintreten und er mich vorsichtig auf das Sofa absetzt.

Augenblicklich verschwindet er in die Richtung, wo sich unsere Küche befindet und lässt mich allein. Wie in Trance öffne ich die Schublade, die in unserem Couchtisch eingebaut ist und durchwühle hektisch den Inhalt. Sobald ich das, wonach ich gesucht habe, in den Händen halte, lehne ich mich zurück.

The Last LetterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt