Kapitel Siebenundzwanzig: Aufmunterung

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A V E R Y

Schockiert sehe ich meinem besten Freund nach, der fluchtartig das Behandlungszimmer verlässt und mir keinen weiteren Blick mehr schenkt. Meine Gedanken überschlagen sich, fahren Loopings in meinem Kopf, als wäre ich auf einer Achterbahn. Ein Wunder, dass mir noch nicht schlecht geworden ist. Sie wollen wissen, was hier genau passiert ist, während ich unfähig bin mich zu bewegen. Mein Verstand verarbeitet noch immer die Unterhaltung, die sie miteinander geführt haben.

Dr. Peterson bleibt ruhig und schüttelt nur leicht mit dem Kopf. Er ist sichtlich enttäuscht über die Tatsache, dass Nathaniel diese neue Behandlung nicht einmal versuchen will.

Mein Mund öffnet sich und nur mit Mühe presse ich die nächsten Worte raus.

»Was genau bedeutet, er könnte seine Erinnerungen verlieren? Alles? Jedes Detail, dass er kennt? Oder wie genau soll ich das verstehen?«

Mein Blick richtet sich auf den älteren Mann, der seine Brille abgenommen hat und mit dem Kittel das Glas abwischt. Seine Schultern wirken angespannt, während seine Augen mich haargenau betrachten.

»Der Glioblastom liegt bei Nathaniel auf der rechten Seite. Genau da, wo sich die Erinnerungen und Emotionen befinden. Es könnte also sein, dass Nathaniel durch die Medikamente einen Teil davon verlieren könnte, weil sie versuchen dagegen anzukämpfen. Die Möglichkeit ist wirklich gering und liegt bei fünf Prozent. Dennoch besteht sie leider.«

Meine Augen weiten sich, während ich hart schlucken muss. »Er könnte sozusagen seine Menschlichkeit verlieren?«

Das hört sich wirklich schrecklich an, aber ich weiß nicht, wie ich es anders formulieren sollte. Was macht einen Menschen aus, wenn er die Emotionen verliert, die ihn ausmachen? Wenn die Erinnerungen fort sind, die ihn zu dem Menschen gemacht haben, der er heute ist?

»Und was denken Sie, wie viel Zeit er durch die Behandlung bekommt?«

»Das ist unterschiedlich. Vielleicht ein Jahr.« Kurz zuckt er mit den Schultern, bevor er seine Brille wieder aufsetzt. »Im besten Fall weitere fünf Jahre. Aber das wissen wir erst, wenn er mit der Behandlung anfängt und wir sehen können, ob sie anschlägt.«

Vielleicht ein weiteres Jahr? Irgendwie hört sich das alles sehr vage an und überhaupt nicht sicher. Außerdem ist es nicht meine Entscheidung, sondern die von Nathaniel. »Reden Sie noch einmal mit Nathaniel. Sie scheinen jemand zu sein, der ihm wichtig ist. Vielleicht können Sie ihn davon überzeugen.«

Dr. Paulsen richtet sich auf und umrandet den Tisch, bis er vor mir stehen bleibt. Tief atme ich ein, als ich mich ebenfalls erhebe und seine Hand schüttle. »Das werde ich.«

Trotzdem will ich meinen besten Freund nicht zu etwas drängen, dass er nicht tun will. Aber ein Gespräch würde nicht schaden. Möglicherweise würde ihm das sogar guttun und wir könnten jeden einzelnen Punkt durchgehen. Zusammen. Er ist in dieser Sache nicht allein.

Ohne ein weiteres Wort verlasse ich das Zimmer und steuere den Lift an, um endlich dieses Gebäude zu verlassen. Ich hoffe sehr, dass Nathaniel unten auf mich wartet, da wir heute den ersten Punkt auf unserer Liste abhaken wollten.

Außerdem muss ich mich vergewissern, dass es ihm gut geht. Er hat nicht gut ausgesehen, als er die Flucht ergriffen hat. Aber ich musste mir anhören, was der Arzt zu sagen hat, weil er ihm nicht richtig zugehört hat. Was ihm wohl durch den Kopf gegangen ist?

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