Kapitel Fünfundzwanzig: Krankenhaus

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A V E R Y

Meine Finger fliegen über die Tastatur, während ich mich versuche zu konzentrieren. Seit ich hier bin, habe ich keinen Text für meine nächste Kolumne verfasst, weshalb ich ein klein wenig unter Druck stehe. Viel zu lange habe ich mich davor gedrückt, weil ich in meinem Kopf keinen Platz für andere Dinge hatte. Aber nachdem mich Jean angerufen hat und nach meinem neusten Text gefragt hatte, musste ich ihr leider erklären, dass ich ihn heute für sie fertigstellen werde.

Seit Stunden sitze ich vor meinem Laptop und tippe ein Wort nach dem anderen. Mein eigentliches Thema ist in den Hintergrund gerutscht, da ich mich in letzter Sekunde für etwas anderes entschieden habe. Ob es etwas ist, was bei den Lesern ankommt? Ich weiß es nicht, aber das ist mir in erster Linie egal. Es kommt von Herzen und es bedeutet mir persönlich unglaublich viel.

Mein Handy beginnt zu läuten und mit einem kurzen Seitenblick stoppe ich meine Finger und nehme tief Luft. Der Name meiner Schwester wird mir auf dem Display angezeigt und ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich rangehen sollte.

Aber was wäre ich für eine Schwester, wenn ich mich vor ihr verstecken würde? Immerhin hat unsere Mutter bestimmt mit ihr gesprochen, sodass sie von unserem riesigen Familiengeheimnis bereits wissen sollte.

»Hallo?«

Auf der anderen Leitung ist ein Schluchzen zu hören, das mir mein Herz aus der Brust reißt. Eindeutig weiß sie davon und so wie ich sie kenne, hat sie alle Puzzleteile zusammengefügt.

»Deswegen hat mich unser Vater gehasst. Aus diesem Grund war er immer so distanziert und ich dachte, dass ich …« Ihre Stimme verstummt und in Gedanken beende ich den Satz, den sie begonnen hat.

»So darfst du nicht denken, Alyssa. Dad hatte Unrecht und nur weil ihr nicht das gleiche Blut teilt, warst du nicht weniger seine Tochter.«

Das ist etwas, dass ich meinem Vater übel nehme. Wie konnte er einem unschuldigen Kind die Schuld geben? Alyssa konnte nichts dafür und anstatt für sie da zu sein, wie es anfangs der Fall war, hat er sie später ignoriert. Als wäre sie Luft und nicht würdig genug, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.

»Avery, er hat kein Wort zu mir gesprochen, seit ich fünfzehn war! Bis zu seinem Tod hat er mir nie wieder einen Blick geschenkt oder mich berührt. Ich war in seinen Augen Abschaum und ich wusste bis gestern nicht wieso.«

Zittrig hole ich Luft und schließe gleichzeitig meine Augen. Ich kann ihr in dieser Sache nicht widersprechen, da es stimmt. Meine kleine Schwester hat mir leidgetan und egal wie oft ich versucht habe zu meinem Vater durchzudringen, es hat nicht funktioniert. Aber etwas hat er damit nicht bedacht. Mit diesem Verhalten hat er nicht nur Alyssa verloren, sondern auch mich. Unsere gesamte Familie ist an diesem Geheimnis und Verhalten zerbrochen.

»Es tut mir leid, Alyssa. Es tut mir so leid, dass ich im Moment nicht für dich da sein kann.«

»Das stimmt nicht. Deine Stimme zu hören und dir alles zu erzählen, bedeutet mir sehr viel.«

Ruckartig stehe ich auf und schreite zum Fenster. »Wie geht es dir damit?«

Wenn mich unser gut gehütetes Familiengeheimnis hart getroffen hat, dann will ich mir nicht ausmalen, wie es ihr geht. Immerhin hat sich bei Alyssa viel mehr verändert. Sie hat einen Vater, der noch lebt und irgendwo da draußen ist und einen Bruder, der bald nicht mehr da sein wird. Ob sie die beiden kennenlernen möchte? Will überhaupt Nathaniels Dad seine Tochter kennenlernen?

»Ich weiß es nicht. Es fühlt sich noch alles so unwirklich an. Ich kann nicht glauben, dass sie uns so lange belogen haben. Mutter wusste, wie scheiße, es mir wegen unseres Vaters ging und trotzdem hat sie geschwiegen und mich dabei beobachtet, wie ich immer mehr daran zerbreche. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihr diesen Verrat verzeihen kann.«

The Last LetterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt