Kapitel Neunzehn: erstes Fettnäpfchen

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A V E R Y

Manchmal wünsche ich mir, dass alles nur ein böser Alptraum ist, aus dem ich jeden Moment erwachen werden. Dass dieser Schmerz nur eine Illusion, aber in der Realität nicht vorhanden ist. Mein Herz schlägt in meiner Brust, signalisiert mir, dass es noch da ist, auch wenn es sich nicht danach anfühlt.

Oft frage ich mich, wie viele Enttäuschungen ich noch in meinem Leben erleben muss. Wie viele weitere Lügen ich aufdecken werde, von den Menschen, die mir so viel bedeuten und denen ich vertraut habe. Denken sie wirklich, dass es mir dabei besser geht, wenn sie mir Dinge verheimlichen oder verstecken sie sich selbst, weil sie Angst vor der Wahrheit haben?

Und was genau sagt es über einen Menschen aus, der jemanden unschuldiges bedroht, weil er selbst verletzt wurde? Die Beziehung zu meinem Vater war nicht die Beste, die ich mir für uns beide gewünscht habe. Aber mit der Zeit und all den Streitigkeiten, habe ich mich immer mehr von ihm distanziert. Ich konnte immer den traurigen Ausdruck in seinen Augen erkennen, mit dem er mich angesehen hat. Meinem Vater war es bewusst, was er mit seinem Verhalten bei mir auslöst und trotzdem hat er nicht damit aufgehört. Zu tief waren die Wunden, die meine Mutter bei ihm hinterlassen hatte.

Ein humorloses Lachen entkommt meinem Mund, als ich an die Frau denke, die diese Scharade jahrelang aufrechterhalten hat. Nicht eine Sekunde habe ich etwas bemerkt oder infrage gestellt.

Ob sie uns jemals die Wahrheit gesagt hätte?

Da bin ich mir nicht so sicher. Immerhin hatte sie genug Möglichkeiten gehabt, die sie aber nie ergriffen hat. Meine Schwester muss am Boden zerstört sein, weil ihr Bild von einer intakten Familie gänzlich zerbrochen ist. Etwas, dass sie in all den Jahren nie wahrhaben wollte.

»Es tut mir leid, Avery.«

Nathaniels Stimme unterbricht meine wirren Gedanken. Er greift nach meiner Hand und verschränkt unsere Finger miteinander. Dabei streichelt er zärtlich mit dem Daumen über meine Haut und beruhigt mich unwissentlich.

»Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist, aber ich wusste nicht, was ich tun soll. Also habe ich den Kontakt zu dir abgebrochen, um meine Mutter zu schützen. Glaube nicht, dass mir das einfach gefallen ist. Auf gar keinen Fall. Eher das Gegenteil. Es hat mir das Herz aus der Brust gerissen.«

Ungläubig weiten sich meine Augen. Wie kommt er darauf, dass ich ihm die Schuld dafür gebe? Ein unschuldiges Kind wurde bedroht und da kann ich die Reaktion darauf vollkommen verstehen. Ich denke nicht, dass ich anders gehandelt hätte, wäre ich an seiner Stelle gewesen. Es ging um seine Mutter!

»Ich bin nicht sauer auf dich, Nathaniel. Viel mehr kann ich dein Handeln verstehen.«

Leicht drücke ich seine Hand, um meine Worte mit dieser Geste noch zu unterstreichen. Er soll wissen, dass ich ihm deswegen keine Sekunde böse bin. Mein bester Freund war nur eine Schachfigur in einem bösen Spiel, dass meine Eltern geführt haben. Aber der König ist in dem Augenblick gefallen, als ich beschlossen habe, auf diese Reise zu gehen und ihn zu suchen.

»Das ist das Werk unserer Eltern. Wir waren nur zufällig da, haben den Zorn abbekommen und mussten mit den Folgen leben. Auch wenn wir unschuldig sind und nichts dafür können.«

Kurz zucke ich mit den Schultern, bevor ich mich in seinem Zimmer umsehe. »Was willst du heute unternehmen?«

Mein Themawechsel ist abrupt, aber klar, weil ich denke, dass wir alles gesagt haben. Den Rest muss ich mit meiner Mutter klären, aber dieses Gespräch werde ich noch ein wenig aufschieben. In diesem Moment will ich nicht mit ihr reden. Der Schock und die Enttäuschung sind noch zu frisch, als dass ich darüber hinwegsehen kann.

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