Kapitel Sechsundzwanzig: Hoffnung

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N A T H A N I E L

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als würde es jeden Moment herausspringen wollen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass es jeder in diesem Raum hören kann, auch wenn es absurd ist. Das ist nicht möglich und trotzdem kann ich nichts anderes als meinen Herzschlag vernehmen, der in meinen Ohren pocht, während kein anderer Laut mehr erklingt. Nicht einmal meinen Atem oder die Schritte, die ich tätige.

Es ist, als wäre alles andere um mich herum in einen Kokon gehüllt worden, sodass ich es nicht wahrnehmen kann. Als würde nichts um mich herum passieren, weil die Zeit eingefroren ist.

Noch immer umschließt meine Hand die Finger meiner besten Freundin. Auch wenn ich langsam das Bedürfnis verspüre, mich daraus zu befreien, weil sie durch meine Nervosität nass vor Schweiß werden. Aber das könnte ich gar nicht, da Avery sich fest an mich krallt, als wäre es für sie der rettende Anker. Für sie ist es ebenfalls nicht leicht hier zu sein, jedoch schätze ich es sehr, dass sie für mich da sein will und mich in dieser Sache unterstützen möchte.

Auch wenn ich am Anfang eher skeptisch war, bin ich ihr jetzt dankbar dafür. Seit ich ihr davon erzählt habe, überschlagen sich meine Gedanken, sodass mir gleich der Kopf explodieren wird und ihre Anwesenheit beruhigt mich bis zu einem gewissen Grad.

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine Zukunft denke. Eine Zukunft, die leider verschwommen ist und die es sehr wahrscheinlich nicht geben wird. Trotzdem kann ich nicht aufhören zu überlegen, zu träumen und mich zu fragen, was wäre, wenn ich diese beschissene Krankheit nicht hätte?

Würde ich dann eine wundervolle Frau kennenlernen und mit ihr mein restliches Leben verbringen, während meine beste Freundin uns mit Connor besuchen kommt?

Würden kleine Kinder in meinem Garten herumtollen, dem Haus mit ihren Schreien und dem Lachen ein Leben einhauchen, das ich niemals könnte?

Würde Alyssa ab und an vorbeikommen wollen, damit sie mich und ihre Neffen oder Nichten sehen kann?

Es gibt tausend Dinge, die in meinem Kopf herumschwirren und ich weiß genau, dass keine dieser Optionen zur Realität werden können. Das kann es gar nicht, weil ein großer Tennisball in meinem Kopf alles zunichtemacht.

Und ich weiß nicht, was ich tun soll, um diese Gedanken zum Schweigen zu bringen.

»Wie geht es Ihnen heute, Nathaniel?«

Die Stimme des älteren Mannes katapultiert mich wieder in die Realität zurück. Benommen blinzle ich schnell einige Male, bis ich meinen Blick auf ihn richte. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir bereits im Untersuchungszimmer sind und ihm gegenüber sitzen.

Ein nervöses Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als ich ihm zu nicke. »Mir geht es gut. Manchmal habe ich Kopfschmerzen, aber sonst sind keine weiteren Symptome aufgetreten.«

Na ja, außer dass ich manchmal abdrifte. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das zu den Symptomen gehört, die er hier anspricht.

Avery bleibt ruhig und sieht uns beide abwechselnd an. Ihre Hand hat sich aus meiner gelöst und ruht auf meinem Oberschenkel. Sie möchte den Körperkontakt nicht unterbrechen und ich bin ihr dankbar dafür. Durch ihre Berührung beruhigt sich ein großer Teil in mir, sodass ich tief Luft holen und ganze Sätze bilden kann.

Sie ist mein Engel in dieser wirklich dunklen Zeit.

Dr. Paulsen rückt seine Brille zurecht, bevor er seine Hände verschränkt und mich mit einem sanften Lächeln anblickt. »Das ist gut zu hören, auch wenn ich bei der Größe des Tumors überrascht bin, dass noch keine weiteren Anzeichen aufgetreten sind.« Leicht schüttelt er den Kopf. »Aber wir haben uns bei Ihnen ein paar Mal geirrt. Sie sind eben ein Kämpfer, Nathaniel.«

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