Kapitel Dreizehn: Spiel

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A V E R Y

Mit einer Decke, die ich mir über die Schultern geworfen habe, nachdem Nathaniel sie mir gereicht hat, blicke ich ihn an und denke über meine erste Frage nach. Ich will mit etwas Einfachem anfangen, bevor es ernst wird und sich die Stimmung zwischen uns sehr wahrscheinlich ändert.

Der Sonnenuntergang hat zwischen uns ein wenig das Eis gebrochen, aber wir sind noch immer etwas unbeholfen, wenn wir miteinander sprechen und das ist ganz normal. Nach zehn Jahren können wir nicht wieder dort anknüpfen, wo wir aufgehört haben. Nicht ohne komplett ehrlich zueinander zu sein und das ist offensichtlich nicht einfach für Nathaniel. Seine Antworten sind vage und das macht mir große Angst. Irgendetwas verheimlicht er mir. Etwas sehr schlimmes.

»Wie lange lebst du bereits in Lewisburg?«, stelle ich ihm meine erste Frage.

Ich habe mich so hingesetzt, dass wir uns in die Augen sehen können. Außerdem hat Nathaniel ein paar Kekse mitgebracht und sie zwischen uns auf einem Teller abgestellt. Keine Sekunde später schnappe ich mir einen und knabbere vorsichtig daran, während ich gespannt auf seine Antwort warte.

»Seit einem Jahr«, erwidert er sofort darauf, was mich die Augenbrauen zusammenziehen lässt. Ein Jahr? Und wieso sieht es in seinem Haus so aus, als wäre er erst seit einigen Wochen hierhergezogen?

Wie in der Schule strecke ich einen Finger in die Höhe, weshalb mein bester Freund leise zu lachen beginnt. »Ja, Avery?«

»Darf ich eine Zusatzfrage stellen, die aber nicht wirklich zum Spiel zählt?« In mir brennt eine Frage, die ausgesprochen werden will, aber ich will mich zuerst absichern, ob ich dadurch später eine weniger stellen darf.

Ein breites Grinsen ziert sein Gesicht, während seine Augen schelmisch aufblitzen. Meine Neugier amüsiert meinen besten Freund und was mich am meisten erfreut, ist, dass sie ein kleines Stück unserer Unbeschwertheit hervorgebracht hat.

»Das ist gegen die Regel, Avery. Also, nein, das geht leider nicht.« Leicht schüttelt er seinen Kopf, bevor er in ein schallendes Gelächter ausbricht. »Ich fasse es nicht, dass du bei deinem eigenen Spiel mogeln willst. Du kannst nicht deine eigenen Spielregeln missachten, aber das ist so typisch du, kleine Hexe.«

Durch den Klang seines Lachens erwärmt sich mein Herz und ich kann gar nicht anders, als gebannt zu lauschen und meine Augen zu schließen, weil ich es so lange nicht mehr gehört habe. Außerdem verursacht sein spezieller Kosename für mich eine Gänsehaut auf meinem Körper, die sich so rasant ausbreitet, als würde ein Tornado in meinem Inneren wüten.

»Stell sie, Avery. Du würdest sonst bald platzen vor Neugierde und das wollen wir doch vermeiden.«

Verlegen erröten meine Wangen, die sich brennend heiß anfühlen, sodass ich bestimmt einer Tomate Konkurrenz mache. Unbewusst löse ich meine Haarsträhnen, die sich hinter meinen Ohren befinden, damit ich es ein wenig kaschieren kann. Trotzdem hat es Nathaniel bemerkt und grinst mich weiterhin breit an, während ich ihn nur unsicher anlächeln kann.

Tief hole ich Luft und sage endlich die Worte, die mir auf der Zunge liegen, seitdem ich in sein Haus eingetreten bin. »Wieso sieht es dann bei dir so aus? Dein Haus ist leer und es sind keine persönlichen Dinge vorhanden. Fühlst du dich hier überhaupt wohl?«

Fest beiße ich mir auf die Lippe, damit ich meinem Redeschwall ein Ende bereite. Anstatt feinfühlig in dieser Sache zu sein, gehe ich direkt auf den Punkt und somit schreite ich sehr stark in seine Komfortzone ein. Hoffentlich verschließt er sich nicht vor mir. Das war dumm von mir.

»Weil du recht hast. Ich habe mich hier nie wohlgefühlt. Wieso das so ist, weiß ich nicht genau, aber ich kann es nicht ändern. Aber es gibt etwas in diesem Haus, das sehr persönlich ist. Du hast es bereits gesehen.« Seine Hand wandert zu seinem Nacken und zeigt mir seine Verlegenheit. Ich bin nicht die Einzige, die sich so fühlt. Und ja, er hat natürlich recht. Unser Bild ist etwas sehr Privates, aber mehr gibt es nicht. Er weiß genau, wovon ich rede.

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