Kapitel Einundzwanzig: Postbote

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A V E R Y

Mit meinem Blick durchbohre ich meine Taschen, während ich überlege, ob ich das wirklich durchziehen sollte. Ich habe Jahre auf den Moment gewartet, meine Antworten auf die vielen Fragen zu bekommen und jetzt will Nathaniel das ich verschwinde? Einfach so?

Steckt da mehr dahinter? Vielleicht hat es etwas damit zu tun, was gestern vorgefallen ist. Immerhin hat es so ausgesehen, als ob die beiden eine stille Kommunikation führen, während ich ratlos die beiden angeschaut habe. Die bevorstehende Explosion war zum Greifen nah. Es hätte nur einen Funken gebraucht, damit alles in Flammen aufgeht. Doch bevor es dazu kommen konnte, hat mein bester Freund die Flucht ergriffen und das Zimmer verlassen.

Tief atme ich ein. Es gibt eine Sache, die er mir nicht sagen möchte. Ich habe das Chaos in seinem Zimmer gesehen. Fest habe ich mir auf die Lippen gebissen, um die Frage zu stoppen, die mir bereits auf der Zunge lag. Ich weiß, dass es etwas Großes sein muss. Mein Bauchgefühl sagt mir dasselbe und ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt hören möchte.

Was, wenn sich durch diese Enthüllung nochmals alles ändert? Wir haben uns erst wiedergefunden und ich will auf keinen Fall, dass sich etwas daran ändert. Nathaniel war schon mein ganzes Leben lang ein wichtiger Bestandteil meines Daseins.

Verdammt! Ich will nicht gehen. Ich will wissen, was hier vor sich geht und danach kann er mich zum Teufel jagen, wenn er das noch immer will.

Entschlossen drehe ich mich weg und tapse zur Kaffeemaschine. Vielleicht hilft mir mein Lebenselixier, um wieder klar denken zu können. Vielleicht spült es meine Verwirrung weg, die mich nicht mehr loslassen möchte. Und vielleicht weiß ich danach, was ich genau tun soll, weil ich jetzt keinen blassen Schimmer habe.

Nathaniel hat sich den ganzen Morgen nicht blicken lassen. Er hockt in seinem Zimmer und wartet anscheinend darauf, dass ich endlich die Fliege mache. Wie ein Feigling kann er mir nicht in die Augen sehen, weshalb sich meine Vermutung bestärkt. Wäre es nichts, würde sich Nathaniel nicht so verhalten.

Sobald der Duft von gemahlenem Kaffee meine Sinne umhüllt, schließe ich für einen kurzen Moment genüsslich meine Augen. Ich gebe ein wenig Milch dazu und schnappe mir die Tasse, bevor ich auf die Veranda gehe und mich vor der Tür auf die Stufen setze. Mein Blick gleitet auf die gegenüberliegende Seite, wo sich das Haus von Mrs. Griffin befindet.

Die alte Dame sitzt bereits auf ihrem Schaukelstuhl und nippt ebenfalls an ihrer Tasse. Ich nehme an, dass es sich um Tee handelt, da sie Kaffee nicht sonderlich mag. Kurz hebe ich die Hand, um sie zu begrüßen. Später werde ich noch bei ihr vorbeischauen, falls ich mich wirklich dazu entschließe diesen Ort zu verlassen. Eigentlich sollte ich das tun, weil es Nathaniels Wunsch ist. Ein Wunsch, den ich zwar nicht nachvollziehen kann, aber respektieren muss.

Er muss seine Gründe haben, die mir in dieser Sekunde schleierhaft sind.

Auch wenn mich seine Worte gestern Nacht verletzt haben, bin ich bei ihm geblieben und habe in seinem Zimmer geschlafen. Ich wollte ihn nicht loslassen und das will ich auch jetzt nicht, aber genau das verlangt er von mir.

Vielleicht lebe ich noch in der rosaroten Blase und klammere mich an die Zeit fest, als noch alles gut war. An die Zeit, in der wir keine Sekunde getrennt sein wollten, weil wir uns perfekt ergänzt haben. Egal wie es uns ging, der andere war da und hat zugehört. Wir haben einander den Halt gegeben und uns aufgemuntert. Wir haben das beschützt, was uns wichtig war und uns unterstützt, während alle anderen dagegen waren. Er war mein Sonnenschein, der mich zum Lachen gebracht und mir in gewissen Punkten die Augen geöffnet hat.

Aber ist das noch immer so? Oder muss ich endlich lernen, dass die Vergangenheit genau das bleibt und nichts mehr so sein wird, wie ich es bisher gekannt habe.

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