Kapitel Vier: Versprechen

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N A T H A N I E L

Mit schnellen Schritten laufe ich auf meinen Wagen zu, um die schweren Einkäufe in den Kofferraum zu verstauen. Es ist eine Weile her, seit dem ich zuletzt im Supermarkt war, weshalb ich dieses Mal ein wenig mehr besorgen musste. Außerdem habe ich Mrs. Griffin versprochen, heute Abend vorbeizuschauen, sodass ich ihren Lieblingswein geholt habe. Mir wurde immer gesagt, dass man zu einem Abendessen nicht mit leeren Händen auftauchen sollte. Meine Mutter war ziemlich streng, wenn es um sowas ging.

Seit einem Jahr wohne ich hier in Lewisburg, jedoch habe ich außer dieser alten Dame niemanden, mit dem ich befreundet bin. Eigentlich habe ich sogar versucht Mrs. Griffin von mir zu stoßen, nur war sie hartnäckig und hat nicht aufgehört an meine Tür zu klopfen, bis ich nachgegeben habe. Ihr siegreiches Lächeln werde ich nie vergessen, aber ich muss sagen, dass diese Frau ein wahrer Schatz ist.

Sie weiß nicht viel über mich, aber über ein Thema haben wir uns stundenlang unterhalten. Mrs. Griffin erinnert mich an meine Oma, weil sie ebenfalls eine weise Frau war und mir immer wieder gute Ratschläge auf den Weg mitgegeben hat.

Als ich in meinen Wagen einsteige, starte ich den Motor, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Ich bin spät dran und ich will mir keine Predigt anhören müssen. Diese alte Dame kann nämlich Unpünktlichkeit nicht ausstehen. Etwas, dass ich mir bei unserem zweiten Treffen anhören musste.

Mit dem offenen Fenster fahre ich nach Hause und schalte das Radio an. Augenblicklich erfüllt eine berührende Klaviermelodie das Autoinnere. Mein Mundwinkel zuckt in die Höhe, weil mich diese Musik an etwas aus meiner Vergangenheit erinnert. In den letzten Tagen taucht dieses süße Mädchen immer öfters in meinem Gedanken auf. Es spielt keine Rolle, ob ich mich dagegen wehre, weil jedes noch so kleine Detail etwas in mir auslöst.

Lachend strecke ich meine Arme aus, um jedes Hindernis vorher zu erfühlen, weil ich mich in diesem Moment nicht auf meine Sehkraft verlassen kann. Avery hat mir um die Augen ein Band festgemacht, da sie eine Überraschung für mich hat.

»Wie weit ist es noch?«, hake ich neugierig nach. Ihre kleinen Hände drücken sanft meine Schulter, während sie mich in die richtige Richtung weisen.

»Nicht mehr lange. Du musst noch ein wenig geduldig sein«, erwidert Avery lachend, weil sie genau weiß, dass das unmöglich ist.

Wenn es um Überraschungen geht, bin ich der neugierigste Mensch auf der Welt. Meine beste Freundin nutzt dieses Wissen gerne aus und treibt mich immer wieder in den Wahnsinn. Anstatt ein wenig Verständnis dafür zu zeigen, amüsiert es sie viel zu sehr. Avery ist definitiv eine kleine Hexe.

»Das ist kein bisschen witzig, Avery«, murre ich leise vor mich hin, jedoch hat sie mich mit ihrem Fledermaus-Gehör genau verstanden.

»Oh doch, das ist witzig, Nathaniel.«

Seit sie meinen vollen Namen gehört hat, nennt sie mich nicht mehr Nate. Avery fand vom ersten Moment an, dass er wunderschön klingt, weshalb sie ab dem Zeitpunkt auf Nathaniel umgestiegen ist. Auch wenn ich mich anfangs darüber geärgert habe, so habe ich mich sehr schnell daran gewöhnt und jetzt liebe ich es.

Der Boden fühlt mich weich an, etwas knackst unter meinen Füßen als ich draufstehe und der Geruch von Moos und Kiefer durchströmt meine Nase. Wir müssen uns im Wald aufhalten. Durch das Band um meine Augen haben sich meine andere Sinne verschärft. Außerdem höre ich ebenfalls das Plätschern des Flusses, der sich ganz in der Nähe befindet.

Was hat meine beste Freundin nur vor?

»Wenn du mich hierher gebracht hast, um mich umzubringen und meine Leiche im Wald zu vergraben, dann schwöre ich dir, dass ich dich als Poltergeist heimsuchen werde.«

The Last LetterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt