Kapitel Zweiundzwanzig: Krankheit

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N A T H A N I E L

Meine Hände stützen sich am Waschbecken ab, bevor ich mich im Spiegel anschaue und am liebsten gleich wieder wegsehen möchte. Dunkle Augenringe, die mich wie ein Monster aussehen lassen, springen mir ins Auge. Verstrubbelte Haare, als wäre ich mehrere Male mit meiner Hand durchgefahren und ein verdammt langgezogenes Gesicht erblicke ich, während ich tief aufatme.

Den Grund für diesen Anblick kenne ich, weil er mich bereits seit Wochen begleitet und seit gestern Nacht ist ein weiterer dazu gekommen. Verdammt, ich sehe sowas von erbärmlich aus, jedoch sieht es tief in meinem Inneren noch viel schlimmer aus.

Ich bin ein riesiger Idiot, als ich Avery letzte Nacht von mir gestoßen und sie nach Hause geschickt habe. Ein Feigling, weil ich mich vor der Wahrheit drücke, anstatt ehrlich zu ihr zu sein. Aber ich kann das nicht. Lange habe ich darüber nachgedacht, die Optionen abgewogen und mir ihre Reaktion vorgestellt.

Wie sagt jemand seiner besten Freundin, dass er im Sterben liegt? Dass er nicht mehr lange Zeit hat und es nichts auf dieser Welt gibt, was diese Krankheit aufhalten wird?

Wenn ihr die Antwort darauf kennt, sagt es mir bitte, weil ich es nicht weiß.

Dieses Ding hat sich in meinem Kopf eingenistet, nimmt mir alles und wird niemals verschwinden, bis ich die Augen für immer schließe. Ist es fair ihr gegenüber, wenn ich sie damit nur verletze, sobald ich den Mund aufmache? Vielleicht ist es besser, dass sie nichts davon weiß und wenn es dann so weit ist, werde ich ihr einen Brief hinterlassen. Ein Abschied, der sie aus der Bahn werfen wird, aber immer noch besser, als wenn sie mich durch diese Zeit begleitet und mich in meinen schlimmsten Momenten erleben würde.

Das will ich ihr auf keinen Fall zumuten.

Niemals.

Ich will mir nicht vorstellen, was das mit ihr oder mir machen wird. Was es für Auswirkungen geben könnte. Die Liste ist lang, die mir mein behandelter Arzt gegeben hat und erst mit der Zeit werde ich erfahren, was auf mich zutreffen wird. Aus diesem Grund ist es besser, wenn sie sich von mir fernhält.

Ein plötzlicher Knall lässt mich zusammenzucken, bevor ich mit schnellen Schritten aus dem Badezimmer stürme, um die Ursache für diesen Lärm zu finden. Avery steht mit großen Augen vor mir, die eine tiefe Traurigkeit ausdrücken, während ich aber noch andere Emotionen darin erkennen kann. Wut, Verwirrung und Unglaube. Ihr Atem stockt, während sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper ausbreitet. Ihre Haare sind verstrubbelt und ich ziehe die Augenbrauen zusammen, bevor mich die Erkenntnis trifft, als ich den Brief in ihrer Hand entdecke.

Ein Brief aus dem Krankenhaus.

Woher hat sie den? Nein, oder? Hat Avery meinen Esstisch durchsucht und in meinen Sachen geschnüffelt?

»Der Postbote war gerade da«, beantwortet sie meine unausgesprochene Frage.

Meine Augenbrauen senken sich noch mehr, sodass sich die Furche dazwischen vertieft. »Und das gibt dir das Recht, meine Briefe zu öffnen?«, kontere ich und verschränke dabei meine Arme vor der Brust.

Eine Abwehrhaltung, da ich mich in die Enge getrieben fühle. Wie kommt sie darauf, meine Sachen zu durchforsten? Diese Dinge gehen sie absolut nichts an.

»Sag mir, dass du nicht an einem Hirntumor leidest?« Auf meine Frage geht Avery nicht ein, sondern sie stellt ihre eigenen, um mehr von mir zu erfahren.

Mit einem Ruck reiße ich ihr das Dokument aus den Händen. Ihr schockierter Schrei ignoriere ich dabei, was nicht korrekt ist, aber ich kann nicht anders. Viel zu sehr bin ich von ihrem Handeln überrascht. Fast habe ich geglaubt, dass sie es nicht mitbekommen wird. Das Schicksal hatte wohl andere Pläne, die mich keineswegs freuen. Meine Augen überfliegen das Stück Papier, um herauszufinden, wie viel Avery weiß.

The Last LetterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt