N A T H A N I E L
Meine Augen sehen sich um und können nichts als grüne Blätter, Sträucher und Moos erkennen. Durch den Duft habe ich mir bereits gedacht, dass wir uns im Wald befinden, nur ist dieser Anblick so wundervoll, dass es mich in den Bann zieht. Im Hintergrund höre ich noch immer das Plätschern des Wassers, das gegen die Felsen schlägt.
»Wow, Avery. Das sieht so toll aus.«
Leise lacht meine beste Freundin vor sich hin, bevor sie ihre Hände an meinen Kopf legt und ihn in die gewünschte Richtung bewegt. Sofort taucht ein altes Baumhaus in meinem Sichtfeld auf, sodass mir der Mund aufklappt und ich mich mit großen Augen zu ihr umdrehe. Mit dem Finger zeige ich auf das Häuschen, das oben auf dem Baum gebaut worden ist. Ich habe so viele Fragen, jedoch will mir kein Wort über meine Lippen huschen.
»Da machst du Augen, was?«, sagt sie mit einem breiten Grinsen. »Ich dachte mir, wir können es gemeinsam restaurieren, weil es doch schon älter ist. Aber es ist perfekt für uns und genau so, wie wir uns das immer vorgestellt haben.«
Noch immer schaue ich sie mit offenem Mund an. Ich kann nicht fassen, dass sie für uns ein Baumhaus gefunden hat. Avery kennt mich zu gut, weshalb sie die Fragen, die mir durch den Kopf gehen, von meinem Gesicht ablesen kann. »Mrs. Jerkins hat mir davon erzählt, als ich sie in der Schulpause davon reden gehört habe. Sie sagte, dass es niemanden gehört und auch nicht abgerissen werden darf, da es irgendwie mit unserer Stadtgeschichte zu tun hat.« Achselzuckend sieht sie mich an, ihr Lächeln noch immer so breit, dass ihre weißen makellosen Zähne zum Vorschein kommen.
»Stadtgeschichte?«, hake ich perplex nach. Wenigstens konnte ich meine Stimme wiederfinden, auch wenn ich nur ein Wort heraus gewürgt habe.
»War klar, dass du genau das gehört hast«, zieht sie mich auf, weil sie meine Neugierde für Geschichte nicht unbedingt versteht. Dafür kann ich nichts mit Kunst anfangen, was Averys Lieblingsfach ist. »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr, wieso oder weshalb, da es mich eigentlich auch gar nicht interessiert. Aber wenn du möchtest, frage ich für dich nochmals nach.«
Schnell winke ich mit der Hand ab. Nein, das will ich auf eigene Faust erkunden. Genau solche Dinge tue ich gerne und habe richtig viel Spaß daran. »Nein, lass mal. Ich werde selbst in der Bibliothek recherchieren. Du kannst mir helfen, wenn du das willst.« An ihrem Gesichtsausdruck kann ich erkennen, wie langweilig Avery das findet und nur widerwillig zustimmt, um mit mir noch ein wenig mehr Zeit zu verbringen.
»Okay. Aber wehe, es ist so beschissen, wie das letzte Mal. Das waren wirklich zwei grausame Stunden, die wir mit unnötigem Zeugs vergeudet haben.«
Lachend schüttle ich den Kopf, als ich an unsere Erkundungstour zurückdenke. Avery ist nicht sonderlich sportlich, weshalb es für sie ein Alptraum war diesen Berg nach oben zu wandern, um nach diesem Stein zu suchen, den wir leider nicht gefunden haben. »Dieses Mal wird es besser, glaub mir. Und ich werde dir deine Lieblingssüßigkeit besorgen, damit du in der Zeit etwas naschen kannst.«
»Okay, dann haben wir einen Deal. Aber kommen wir zurück zu meiner unfassbar tollen, mega coolen Überraschung. Wie wäre es, wenn wir nach oben klettern und uns alles ansehen?«
Zustimmend nicke ich ihr zu, bevor ich auf das Baumhaus zu sprinte, während ich einen Blick nach hinten werfe. »Wer zuletzt oben ist, muss dem anderen ein Eis ausgeben.«
»Hey! Das ist total unfair, Nathaniel!«, schreit sie mir hinterher, jedoch lache ich nur laut auf. Ich habe nie behauptet, dass ich mit fairen Mittel kämpfe.
Nachdem ich vorsichtig hochgeklettert bin, setze ich mich auf den Boden, bevor ich zu Avery blicke, die unten an der Leiter steht und sie skeptisch beäugt. »Hast du etwa Angst?«, stichle ich, was sie nur mit einem energischen Kopfschütteln quittiert. Meine beste Freundin mag es überhaupt nicht, wenn ich sie auf diese Art ärgere. Sie ist sofort Feuer und Flamme, um mir das Gegenteil zu beweisen. Wie auch jetzt.
Sofort setzt sie ihren Fuß auf die unterste Sprosse und haltet sich an den Seitenholmen fest. Langsam und vorsichtig klettert sie nach oben und als sie in Griffnähe ist, halte ich sie am Arm fest, um ihr einen besseren Halt zu geben. »Du hast es fast geschafft«, murmle ich ihr zu. Stöhnend lässt sie sich auf den Boden fallen, als sie es endlich nach oben geschafft hat. Wie bereits erwähnt, ist Avery kein bisschen sportlich, weshalb sie sich auf den Rücken dreht und tief Luft holt.
»Verdammt. Können wir hier keinen Lift einbauen, um es mir einfacher zu machen, wenn wir hinaufklettern?«
Verdutzt blicke ich sie an, bevor ich in ein lautes Gelächter ausbreche. »Nein, das können wir leider nicht tun, Avery.« Sofort schiebt sie ihre Lippe vor und schmollt tatsächlich. »Aber wieso nicht?«, verlangt sie trotzig zu wissen und verschränkt ihre Arme vor der Brust. Ich lege mich neben sie und drehe mein Kopf in ihre Richtung, um ihr in die Augen sehen zu können.
»Das ist eine tolle Überraschung, Avery. Vielen lieben Dank dafür. Das wird unser Rückzugsort werden, wenn wir mal nicht gefunden werden wollen«, flüstere ich ihr leise zu.
»Und wenn wir nicht gefunden werden wollen, muss der andere alles dran setzen, um genau das Gegenteil zu tun. Denn wir wissen beide, dass wir nicht allein sein wollen, wenn wir zusammen sein können.«
Avery hat die perfekten Worte gefunden, die nicht besser der Wahrheit entsprechen könnten. Denn genau so ist es. Ein Leben ohne meine beste Freundin ist nicht dasselbe. »Versprochen?«
»Versprochen, Nathaniel. Aber versprich mir auch, dass du es nicht so weit zulassen wirst.«
Bestätigend drücke ich ihre Hand. Das werde ich bestimmt nicht zulassen.
°°○°°
Eine Hand drückt sanft meine Schulter, sodass ich wieder in die Realität zurückkehre. Das köstliche Essen ist bereits kalt geworden, der Teller von meiner Freundin leer, während meiner noch voll ist. Sie hat auch bereits ihr Glas Wein ausgetrunken, während ich weggetreten war.
Mrs. Griffin ist aufgestanden und blickt mich aus sorgenvollen Augen an. »Ist alles in Ordnung bei dir, Nate?«
Noch immer benommen nicke ich ihr zu. Ich weiß gar nicht, was ich genau darauf antworten sollte, weil diese Erinnerung eine der schönsten ist, die ich mit meiner besten Freundin teilen durfte. Dieses Versprechen hat mir immer die nötige Kraft gegeben, aber leider ist alles anders gekommen.
»Bist du dir sicher? Es hat den Anschein gemacht, als wärst du ganz weit weg.«
»War ich auch, aber es war eine schöne Erinnerung, Mrs. Griffin. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Mir geht es wirklich gut.«
Prüfend mustert sie mit gerunzelter Stirn meine komplette Erscheinung. Etwas, dass diese alte Dame in letzter Zeit öfters tut. »Du siehst aber blass aus, mein Junge. Brauchst du irgendetwas? Vielleicht solltest du noch fertig essen. Warte, ich schiebe den Teller schnell in die Mikrowelle, um es dir warmzumachen.«
Ich kann nicht einmal dagegen protestieren, da hat sie bereits meinen Teller geschnappt und ist in die Küche geflitzt. Eigentlich dachte ich immer, dass man im Alter langsamer wird, aber wenn ich mir Mrs. Griffin ansehe, dann stimmt das kein bisschen. Sie ist wie eine Rakete und das noch mit zweiundachtzig Jahren.
Mit ihrem Glas Wein, dass sie sich wieder nachgeschenkt hat, kehrt sie zurück ins Esszimmer uns setzt sich zu mir an den Tisch.
»Willst du mir von der Erinnerung erzählen?«
Auch wenn Mrs. Griffin sie bereits kennt, rede ich sofort drauflos und entlocke ihr mehrmals ein leises Lachen. Es ist schön zu sehen, wie die Geschichte von Avery und mir andere Menschen erheitern kann. Wie toll es sich anfühlt darüber zu reden, auch wenn es in der Realität gerade anders aussieht.
Es gibt im Moment kein anderes Thema, über das ich gerne sprechen will. Seit diesem einen Tag kann ich nicht aufhören an sie zu denken und mich zu fragen, was sie gerade tut. Ob sie bereits verheiratet ist oder Mutter von zwei Kindern. Wie es ihr auf ihrem beruflichen Weg ergangen ist und ob sie sich ihren Traum von der Musik erfüllen konnte. Alles Fragen, auf die ich keine Antwort habe und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt bekommen werde.
Und so verbringen wir den restlichen Abend zusammen, ohne einen weiteren Flashback meinerseits. Irgendwann haben wir es uns mit ein paar Decken auf ihrer Veranda gemütlich gemacht, da ich den Sonnenuntergang nicht verpassen wollte. Auch wenn ich ihn mir eigentlich immer allein ansehe, hatte ich für diesen Abend eine wirklich unterhaltsame Gesellschaft.
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The Last Letter
RomanceAvery Wilson ist kurz davor, mit dem Mann ihrer Träume den Bund der Ehe zu schließen, als sie einen Brief erhält, der sie zurück in die Vergangenheit katapultiert. Entschlossen will sie die Antworten finden, die sie seit Jahren nicht in Ruhe lassen...