Kapitel Siebenunddreißig: Aussprache

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A V E R Y

Starr blicke ich auf meine Hände, die in meinem Schoss liegen. Kein Laut dringt aus meinem Mund. Alyssa und meine Mutter sind ebenfalls still. Einzig allein hören wir die Uhr, die nervig im Takt tickt. Connor ist in die Küche geflüchtet und hat mich in dieser Situation allein gelassen. Verübeln kann ich ihm das nicht, weil ich weiß, dass wir das zu dritt klären müssen. Auch wenn ich seine Unterstützung gut gebrauchen könnte.

Alyssa ist sofort zu mir nach Hause gefahren, nachdem ich sie angerufen haben. Meine kleine Schwester war nicht überrascht, dass unsere Mutter bei mir aufgekreuzt ist. Im Gegensatz zu mir. Ich habe nicht eine Sekunde damit gerechnet.

Woher wusste sie auch, dass ich wieder zu Hause bin?

Grübelnd beiße ich mir auf die Lippe, während ich mit dem Fuß auf den Boden tippe. Im Takt der verdammten Uhr, die mich noch in den Wahnsinn treiben wird. Bevor ich sie noch gegen die Wand schlage, stehe ich auf und tigere im Raum auf und ab. Mit fuchtelnden Händen schaue ich überall hin, nur nicht zu meiner Mutter. Ich bin noch immer über die Tatsache schockiert, dass sie eine Affäre mit dem Vater meines besten Freundes hatte. Und dass wir nichts bemerkt haben. Außer meinem verstorbenen Dad.

»Willst du vielleicht mal anfangen?« Kurz blicke ich meine Schwester an und runzle dabei meine Stirn. »Diese Stille tut uns nicht gut und bevor noch jemand austickt, wäre es besser, wenn du mit der Sprache herausrückst.«

Es ist nicht einfach für uns, besonders für Alyssa nicht. Ich will mir nicht ausmalen, was für ein Durcheinander in ihrem Inneren herrscht. Was für Gedanken sie plagen, während sie sich an alles zurückerinnert. Mein schlechtes Gewissen meldet sich, da ich in den letzten Wochen nicht wirklich darüber nachgedacht habe. Dass ich nicht für sie da war, auch wenn sie mich gebraucht hätte. Ich war viel zu sehr mit Nathaniel und mir beschäftigt. Habe über seine Krankheit gegrübelt und mich auf unsere Liste fokussiert.

Eine schlechte Schwester war ich und das zerreißt mir mein Herz.

»Kannst du dich bitte hinsetzen? Dann werde ich euch alles erzählen und jede Frage beantworten.«

Widerwillig folge ich ihrer Bitte und lasse mich neben Alyssa fallen. Sofort krallt sie sich an meiner Hand fest, als wäre ich ihr rettender Anker. Ich hoffe nicht, dass ich sie vor dem Ertrinken retten muss. Aber wenn es so weit kommt, werde ich alles tun, um sie zu beschützen. Sie ist mir viel zu wichtig, als dass ich es zulassen würde, dass ihr irgendetwas passiert.

»Dann fang mal an«, fordere ich sie auf und versuche die Anspannung in meinem Körper zu mildern. Aber egal wie ich es versuche, es will mir nicht gelingen.

Tief atmet unsere Mutter ein und schließt für einen kurzen Moment ihre Augen. Zeitgleich beginnt ihr Körper an zu beben und als sie uns anblickt, kann ich die Tränen in ihren Iriden erkennen.

»Als Erstes will ich mich bei euch entschuldigen«, beginnt sie und sieht uns beide mit einer Ernsthaftigkeit an, die ich sonst nicht von ihr kenne. »Es war nie meine Absicht, euch zu verletzen. Vor allem dich nicht, Alyssa.«

Meine kleine Schwester zuckt bei diesen Worten zusammen. Ich kann sehen, wie sehr es beiden schwerfällt. Auf unterschiedliche Weise. Kein einziges Mal hat sie, seit sie hier angekommen ist, unserer Mutter in die Augen geblickt. Sie meidet jeglichen Kontakt und ich bin mir nicht sicher, ob sie das durchziehen will. Oder besser gesagt kann.

»Wieso hast du mit uns nie geredet?«, hake ich nach und streiche sanft über Alyssas Handrücken. Ich will ihr die Anspannung nehmen. Am liebsten in ihren Kopf schauen, damit ich weiß, worüber sie nachdenkt und ich ihr helfen könnte. Leider zieht sie sich jedoch zurück. In ihr eigenes Schneckenhaus.

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