Kapitel Neunundzwanzig: Loslassen

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A V E R Y

Meine Finger schweben über den Tasten, lassen mich alles um mich herum vergessen, während ich in eine Welt eintauche, die ich vor langer Zeit besucht habe. Ich fliege immer weiter hoch, lasse mich von den Klängen, das dieses Klavier von sich gibt, verzaubern. Langsam bildet sich ein kleines Lächeln auf meinem Gesicht, welches immer breiter wird und mir ein Gefühl schenkt, das ich geglaubt habe verloren zu haben.

Es fühlt sich befreiend an, auch wenn es sich am Anfang eher verkrampft angehört hat. Kein Wunder. Meine Hände sind ein wenig eingerostet, da ich lange nicht mehr gespielt habe. Ehrlich gesagt, habe ich viel zu lange darauf verzichtet.

Die innere Anspannung fällt von mir ab, während ich all meine Gefühle in diese Ballade hineinstecke und meinem besten Freund offenbare. All diese negativen Emotionen brechen aus mir heraus, verschwinden aus meiner heilen Welt, in der ich mich gerade befinde und lassen mich hoch in die Wolken schweben. Als ob ich in Watte eingehüllt bin, die mich vor weiteren Schmerz schützt.

Die Melodie tanzt um mich herum. Sanft, leicht und wunderschön. Sie erzählt eine Geschichte, die mir trotz des Lächelns, Tränen in die Augen treibt und mich an etwas erinnern lässt, das ich bis zu diesem Augenblick komplett verdrängt habe.

°°○°°

»Was war das?«

Nathaniel sieht mich aus großen Augen an, während ich ihm ein breites Grinsen schenke. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, habe ich alles richtig gemacht. Aus diesem Grund klopfe ich mir gedanklich auf die Schulter.

»Dein Geburtstagsgeschenk. Gefällt es dir?«, will ich wissen und streiche über das Notenblatt.

Ich habe Wochen dafür gebraucht, da es nicht ganz so einfach war. Ein Lied zu komponieren, dass perfekt zu meinem besten Freund passt, war schwerer als ich gedacht habe. Es musste alles passen. Die Melodie, die ihn genau beschreibt und ihm sagt, wie wichtig er mir ist. Dass er zu meinen Lieblingsmenschen gehört, die ich niemals wieder missen möchte.

»Für mich?«, kommt es krächzend von ihm, während seine Augen zu glitzern beginnen.

»Natürlich, Sherlock. Für wen denn sonst? Siehst du noch einen Nathaniel Wright hier stehen?«

Nathaniel kommt einen Schritt näher und legt sanft seine Hände auf meine Schultern. In seinen Iriden kann ich Bewunderung erkennen und auch, wie tief ich ihn mit dieser Geste berührt habe. Und dieser Anblick treibt mir selbst Tränen in die Augen.

»Avery! Du bist vollkommen verrückt! Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Du hast mich damit komplett umgehauen.«

Ein breites Lächeln, das seine makellosen Zähne zum Vorschein bringt, erscheint auf seinem Gesicht. Eine Reaktion, die ich mir erhofft habe. Mir wird ganz warm ums Herz und bevor sich eine Träne aus meinem Augenwinkel lösen kann, schlinge ich meine Arme um seinen Torso.

»Sehr gern geschehen. Du hast noch so viel mehr verdient, Nathaniel. Und bevor ich es vergesse: Alles gute zum Geburtstag.«

Auch seine Arme schlingen sich um meine Taille, ziehen mich näher an ihn ran, während mein bester Freund sein Gesicht in meine Halsbeuge legt.

»Danke. Spielst du es mir nochmals vor?«, bittet er mich flüsternd.

»Natürlich. So oft du willst.«

°°○°°

Eine Träne kullert meine Wange hinab, die mir sanft weggewischt wird. Ich kann seine Wärme noch immer auf meiner Haut spüren. Meine Finger fliegen noch ein letztes Mal über die Tasten und als der letzte Klang abebbt, ziehe ich sie langsam zurück.

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