Kapitel Elf: Kaffee trinken

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A V E R Y

Kennt ihr das Gefühl, eure Arme um den Menschen festklammern zu wollen und ihn nie wieder gehen zu lassen, weil er sich nach zu Hause anfühlt? Den Duft einzuatmen, der euch so viel Geborgenheit schenkt, als bräuchten wir nichts anderes. Die Berührung zu fühlen, die unseren kompletten Körper durcheinander bringt, weil es überall zu kribbeln anfängt.

Kennt ihr das Gefühl endlich angekommen zu sein, nur weil dieser Mensch wieder bei euch ist?

Es müssen keine romantischen Gefühle im Spiel sein, denn diese tiefe Verbundenheit kann sich auf so viele Arten zeigen. Egal ob es die eigene Familie ist, oder wie in meinem Fall mein wiedergefundener bester Freund.

Jahrelang hat etwas Wichtiges in meinem Leben gefehlt, während ich versucht habe, diese Gedanken auf die Seite zu schieben. In meinem tiefen Inneren wusste ich genau, welches Puzzleteil fehlt, aber ich wollte mir das nicht eingestehen, weil ich zu stark verletzt worden bin. Nathaniel hat mich ohne mit der Wimper zu zucken verlassen und ein großes Loch in meiner Brust hinterlassen, dass ich nur mit der größten Mühe verschließen konnte.

Nathaniels Arme sind fest um meinen zierlichen Körper geschlungen, drücken mich stark an seine harte Brust, während er seine Nase tief in meinem Haar vergraben hat. Mein Körper zittert noch immer, fühlt sich zwiegespalten, weil er auf der einen Seite glücklich ist, ihn wiedergefunden zu haben. Auf der anderen Seite bin ich so wütend und enttäuscht, da er es nie für nötig gehalten hat sich bei mir zu melden. Es war ihm nicht wichtig. Ich war ihm nicht wichtig.

Gröber als beabsichtigt reiße ich mich von ihm los und sehe ihn mit meinen verquollenen Augen an. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass er wahrhaftig vor mir steht.

Seine schwarzen Haare sind länger als noch vor zehn Jahren, sodass er sie immer wieder aus dem Gesicht streichen muss. Leider bringt das nicht viel, da sie eine Sekunde später wieder zurückfallen. Seine große Statur ist breiter geworden, vor allem seine Schultern und geben ihm diesen maskulinen Touch. Und in seinen himmelgrauen Augen sehe ich einen Sturm toben.

Einen Sturm, in denen verschiedene Gefühle versuchen, die Oberhand zu erkämpfen. Von Schmerz und Verlust, bis Reue und Schuld kann ich alles sehen. Ebenfalls die freundschaftliche Liebe, die er mir gegenüber empfindet. Auch noch nach all diesen Jahren.

Mrs. Griffin wusste anscheinend, wer ich bin, weshalb sie mich auch zu einem Tee eingeladen hat. Diese alte Dame ist eine raffinierte Frau, die dafür gesorgt hat, dass wir uns über den Weg laufen.

»Wir müssen uns dringend unterhalten«, durchbreche ich die Stille, die sich zwischen uns gebildet hat.

Mein bester Freund schließt die Augen, als er den Klang meiner Stimme hört. Ich kann mir nicht vorstellen, was in ihm vor sich geht. Vor zehn Jahren hätte ich es gewusst, aber mit der Zeit ändert sich alles.

Auch ein Nathaniel Wright.

Und dieser hat bis zum jetzigen Zeitpunkt noch kein Wort gesagt. Stumm blickt er mich an und versucht zu erahnen, wie ich mich fühle. Stumm hat er sich bemüht, mir Trost zu spenden. Und stumm nickt er mir zu und gibt mir ein Handzeichen, dass ich ihm folgen soll.

Kurz drehe ich mich zu Mrs. Griffin um, die uns beobachtet. Mit einem mitfühlendem Blick winkt die alte Dame mir zu und verschwindet im Haus. Ist ihr bekannt, was zwischen uns vorgefallen ist oder hat ihr Nathaniel kein Wort darüber gesagt?

Kopfschüttelnd laufe ich los, um Nathaniel einzuholen. Er hat sich an der Tür zu mir umgedreht und auf mich gewartet. Mein bester Freund scheint nervös zu sein, aber auf eine Weise kann ich ihn verstehen. Das eigene Haus ist etwas Intimes und ein Rückzugsort für ihn, da es vieles über sich selbst aussagt.

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