Ich wache auf. Ich weiß nicht genau was mich geweckt hat, aber jetzt rapple ich mich langsam hoch und sehe mich um. Ich bin auf einer Couch, in einem Wohnzimmer. An einem Fenster steht ein reich geschmückter Weihnachtsbaum, Spielsachen und Geschenkpapier sind über den Boden verteilt, auf den Schränken stehen erloschene Kerzen. Mein Blick zuckt herum. Ich drücke die Decke die um mich gewickelt ist noch näher an mich heran. In der Nacht war ich so müde, dass ich Heinos Wohnzimmer gar nicht richtig bemerkt hatte, aber jetzt mustere ich alles ganz genau. Sie haben viel technisches Schnick-schnack, Computer, Fernseher, Spielkonsole. Ich stehe auf und als ich bemerke, dass ich nichts mehr trage als das dünne Shirt und meine Boxer, schlinge ich die Decke noch fester um mich. Unsicher tapse ich durch den Raum, bis ich meine Klamotten auf einem Heizkörper entdecke und sie schnell anziehe - sie sind noch mollig warm.
Ich sollte gehen. Ich sollte Heino nicht mehr länger zur Last fallen und mich lieber ganz schnell verpissen. Aber bevor ich zur Wohnungstüre gehe mache ich noch einen Abstecher in die Küche und nehme einen Schluck Wasser aus dem Wasserhahn. Es ist so eiskalt, dass es fast schon wieder brennt auf meiner Zunge, aber ich mag das.
„Bist du von Papis Arbeit?" Die helle, neugierige Kinderstimme lässt mich zusammenzucken, ich reiße den Kopf so schnell hoch, dass ich mir die Stirn am Wasserhahn anhaue. „Scheiße", fluche ich und halte mir die schmerzende Stelle.
„Scheiße sagt man nicht", klingt wieder die Stimme die offensichtlich zu einem kleinen Mädchen gehört. Ich drehe mich um, damit ich das Kind ansehen kann. Es ist wirklich das Mädchen von den Fotos, Anna, mit in die Hüfte gestützten Armen steht sie in der Türe, hinter ihr erkenne ich die rosafarbene Wand des Kinderzimmers. Sie mustert mich von oben bis unten, aber dann fängt sie plötzlich an zu strahlen, rennt auf mich zu und schlingt die dünnen Arme um mich. Besser gesagt um meine Hüfte, ihr Gesicht presst sie in meinen Bauch. Ich bin so überrascht, dass ich kein Wort herausbringe. Ich greife ihr auf die Schultern und schiebe sie sanft von mir weg, aber sie klammert sich trotzdem noch an meinem Shirt fest. „Sam", grinst sie dann. Und es fällt mir ein. Anna. Das kleine Mädchen in dem Supermarkt. Die Stoffschildkröte. Natürlich, ich bin so blöd! Und jetzt posaunt sie den falschen Namen auch noch so laut durch die Wohnung, dass ihre Eltern sicher aufwachen. Heino wird wieder mit mir reden wollen und die Mutter - ich bin sicher, dass sie nicht begeistert ist, dass ich hier bin, ein Straßenkind in ihrer Wohnung. „Was machst du hier, Sam?", will Anna wissen. Ihre kleine Hand zerknittert den Stoff meines Shirts. Sie trägt nur ein rosarotes Nachthemd, eine Hello-Kitty ist darauf gedruckt. Ihre braunen Haare sind zu einem kurzen Fischgrätenzopf geflochten.
Ich lächle sie unsicher an. „Wie du gesagt hast: ich bin von der Arbeit deines Papas"
Verwundert sieht sie mich an. „Wieso?" Ihre kleine Hand nimmt jetzt meine und es erschreckt mich, dass sie nicht viel größer ist als die ihre. Mir war nicht bewusst, wie kindlich ich wirklich noch bin. Anna zieht mich zum Küchentisch und drückt mich dort auf einen Stuhl. „Anna, ich wollte gerade gehen", versuche ich verzweifelt sie abzuhalten, aber sie schüttelt nur den Kopf. „Nein. Erst musst du mir erklären, wieso Papi sich um dich kümmern muss" Ich zucke nur mit den Schultern. Ich kann ihr das nicht erklären, sie würde es doch nicht verstehen; aber jetzt legt sie genau denselben Blick auf, den auch Heino macht, sie sieht mir tief in die Augen wobei sich auf ihrer Stirn kleine Falten bilden. „Hast du keine Mama mehr?" Diese Frage sticht, aber ich schüttle den Kopf. So wenig wie sich meine Mutter für mich interessiert und interessiert hat, hatte ich wohl noch nie eine Mutter. Aber ich konnte doch auch nichts dafür, dass ich ungeplant war, oder?
Anna sieht mich traurig an. „Du Armer. Aber du hast einen Papa?"
Papa. Was für ein absurdes Wort für meinen Vater. Es klingt viel zu niedlich, freundlich, es ist ein Wort für einen Mann der seine Kinder wirklich liebt. Nicht so liebt, wie mein Vater mich. Deswegen war er für mich auch immer nur Dad. Dad ist abweisend, kalt, es ist eine andere Sprache, hat nichts Persönliches. „Ich habe einen Vater", flüstere ich leise. Anna sieht mich mit ihren riesigen braunen Augen an, ihre langen Wimpern streicheln ihre Haut wenn sie blinzelt. „Aber das ist doch gut", freut sie sich. „Dann kannst du doch zu deinem Papa, oder? Dann musst du doch nicht traurig sein"
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Have you lost your fighting spirit?
Novela JuvenilAusgegrenzt, ungewollt und einfach nur verarscht; so fühlen sie sich. Der Abschaum, wie sie sich selbst manchmal nennen, zu schlecht für die Gesellschaft, zu gut zum Sterben irgendwie. Sie treiben auf der Oberfläche mit einem Fuß am Grund. Wer sie s...