7 - Hey, sweet little girl

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  • Gewidmet Jana
                                    

Überarbeitet

Ein paar Tage bin ich nun schon auf der Straße. Immer unterwegs, nirgendwo länger als ein paar Stunden. Ich bekomme kaum noch Schlaf, weil ich immer Angst haben muss, verjagt oder verprügelt zu werden. Die Innenstadt ist untertags ein guter Ort zum Betteln und Rumsitzen, aber nachts ist es schlimm. Ich versuche mich in geschützte Umgebungen zurückzuziehen – Hauseingänge oder Busstationen. Auch die U-Bahn habe ich eine Nacht lang versucht, aber dort sind mir zu viele Betrunkene.

Heute sitze ich in einer Unterführung, nahe an die Wand gerückt, damit mich keine Autos erwischen. Aber es ist sowieso kein Verkehr hier. Auch keine Menschen. Seit Stunden bin ich der einzige. Gerade als ich das gedacht habe, taucht eine Person in meinem Blickfeld auf. Schnell stehe ich auf und presse mich noch näher an die Wand heran.

In dem unangenehmen Licht der Leuchtstoffröhren, erkenne ich erst auf den zweiten Blick, dass es bloß eine Frau ist. Sie trägt hohe Schuhe, auf denen sie ziemlich torkelt und ein kurzes Kleid. In ihrer Hand hat sie eine Flasche. Je näher sie kommt, desto genauer sehe ich sie. Sie ist beinahe noch ein Mädchen. Ihre Schminke ist verwischt und an ihrem Hals hat sie etwas, das nach einem Knutschfleck aussieht. Vielleicht eine Partyheimkehrerin. Heute ist Donnerstag. Vielleicht eine Prostituierte.

Ich lehne mich weiter zurück, löse den Blick von ihr und mustere angestrengt den dreckigen Boden. Sie soll bloß nicht auf mich aufmerksam werden, einfach weiter gehen, mich nicht stören. Doch natürlich tut sie das nicht. Sie hat mich anscheinend entdeckt, zumindest werden ihre Schritte schneller und halten direkt auf mich zu.

"Geh weg, geh weg, geh weg", murmle ich tonlos, doch ich höre abrupt damit auf, als sie vor mir stehen bleibt und die Hände in die Hüften stemmt. Mit neugierigen Augen mustert sie mich von oben bis unten, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ich fühle mich unwohl unter ihren Blicken. Dann macht sie den Mund auf und fragt: "Ich kenne dich gar nicht. Biste von uns? Biste neu?" Sie redet schnell, beinahe zu schnell. Ihre Stimme hört sich an, als hätte sie zu viel geschrien.

Ich zögere kurz, hab keine Ahnung wovon sie spricht – aber ich nicke einfach mal. Dann hebe ich den Kopf und sehe ihr ins Gesicht. Sie quietscht, lässt ihre Flasche fallen und ich zucke zusammen. "Fuck! Du bist ja genial!" Sie springt ein paar Mal auf und ab während sie weiterredet. "Du hast mich jetzt voll erschreckt, Alter! Hattest wohl einen Alaskahund in der Familie, hä?" Sie lacht gackernd und ich brauche einen Moment bis ich begreife was sie überhaupt meint: meine Augen. Ich habe schon oft gehört, dass sie aussehen wie von einem Husky und das bestreite ich auch nicht, so hellblau wie sie sind; aber ich habe noch nie erlebt, dass jemand so deswegen ausflippt. Die meiste Zeit hat mir nur Dad gesagt, dass ich Augen hätte wie Kloreiniger. Bei dem Gedanken an ihn muss ich husten.

Das Mädchen lässt sich davon nicht ablenken und kommt ganz nahe. "Die sind echt", stellt sie nach ein paar Sekunden fest. Ich nicke irritiert, was sie zum Grinsen bringt. Sie selbst hat auch blaue Augen, aber sie sind viel dunkler und unreiner. Trotzdem passen sie perfekt zu ihren blonden Haaren.

"Mit denen wirst du's wahrscheinlich nicht schwer haben Kunden zu finden, das verspreche ich dir. Du siehst aus wie ein Engel." Sie grinst noch immer, aber als sie meinen befremdeten Gesichtsausdruck bemerkt, runzelt sie die Stirn. Dann schlägt sie sich mit der flachen Hand dagegen. "Ach Gott, ich Hirsch!" Hirsch? Seit wann ist das ein Schimpfwort? Ich kann nicht fragen, denn sie streckt mir die Hand hin und strahlt mich an. "Ich bin Kinky. Und du?" Kinky... Ist das nicht ein englisches Wort? Vielleicht – aber ist auf jeden Fall kein Name. Kinky schnippt mit dem Finger vor meinem Gesicht herum und bringt mich wieder zurück zu ihr. "He, du! Eingepennt? Ich hab dich gefragt wie du heißt, Sauhund."

Ich sage nichts darauf und entscheide mich lieber wieder auf meine Füße zu starren, mit denen ich über den Boden scharre. Kinky lacht kurz. "Ach so, ich verstehe. Du hast dir noch keinen Namen zugelegt, richtig? Würd' ich dir aber schnell empfehlen zu tun. Hier sagt nie seiner richtigen Namen. Schon gar nicht zu den Kunden, die sollen doch nicht wissen wie wir heißen. Ekelhafte Vorstellung." Sie schüttelt sich, aber dann grinste sie wieder und fasst nach meinem Kinn, damit ich sie ansehe. Es ist mir unangenehm. "Ich denke, ich werde dich Husky nennen. Ja, das ist gut, endet sogar auf i!" Wieder lacht sie schrill. "Auf sowas fahren die voll ab, keine Ahnung wieso aber ich sag dir: Der Name in Kombi mit deinen Augen ist der Knaller! Ich bin so stolz auf mich." Ihr Grinsen ist so breit, dass man die Zähne sehen kann. Ich schweige – ich weiß nicht wovon sie redet, schon wieder nicht. Aber dafür ist mir endlich eingefallen was kinky heißt: abnormal. Scheint gut zu ihr zu passen.

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