Kapitel 37

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Karims Sicht:


Heute war ihr Geburtstag. Geburtstage waren immer etwas schönes. Ich liebte es, sie zu feiern.

Alles war schon geplant. Das erste Geschenk würde ich ihr gleich sofort überreichen und für den Abend war auch alles schon bereit. Ich hoffte sie würde sich freuen.

Nervös stand ich vor dem Schulhof und wartet, wie jeden Morgen, auf sie. An mir gingen etliche Schüler vorbei, darunter auch Nils und seine Gang. Ich zählte mich nicht mehr dazu. Wir hatten schon lange nichts mehr zusammen unternommen. Falls wir einmal miteinander redeten, ermahnte ich ihn, sich von Clarissa fern zuhalten. Sie litt jeden Tag, dass merkte ich, auch wenn sie es nicht immer zeigte. Es zerbrach mir mein Herz, sie so zu sehen, doch ich tat schon alles mögliche um ihr zu helfen.

Die Überraschung war groß, als Nils lächelnd auf mich zu kam. Im Schlepptau, wie zu erwarten,Matt, Nils und Lukas.

„Na Diggaa?", begrüßte mich Nils und gab mir einen Handschlag

„Hey", antwortet ich leicht verwirrt. Was führte Nils im Schilde? Wir hatten uns seit Wochen nicht mehr gegrüßt.

„Wie läufts so? Alles fit mit deinem Skelett?", fragte er frech.

„Nenn sie nischt so", zischte ich.

„Locker, Alta. War doch nur nett gemeint. Also wann schießt du sie endlich ab. Du hast lang genug mit ihr gespielt. Findest du nicht auch? Ich sollte jetzt mal an die Reihe kommen."

„Dreckssack."

„Oho. Ist das Paket für sie?", fragte er und deutete auf meine Hände. Er tat so, als ob er mein letztes Wort nicht gehört hätte.

„Und wenn es so wäre?", giftete ich ihn an.

„Kommt Jungs. Mit dem ist nicht zu reden. Aber er ist doch eh voll das Opfer", sagte er zu seinen Kumpels. Dann wandte er sich wieder mir zu. „Du hast keine richtigen Freunde hier an der Schule, ist dir das aufgefallen? Das ist ihre Schuld. Das weißt du. Du kannst aber jederzeit zu uns zurück kommen. Dein Platz bleibt frei. Jedoch muss sie auch frei sein. Du verstehst? "

„Verzieh disch!", zischte ich erneut.


Lachend drehte sich Nils um und verschwand zusammen mit seiner Clique im Schulgebäude. Gegen meinen Willen schaute ich ihnen hinterher. Wie gerne würde ich auch wieder eine richtige Männer Clique haben. Die Zeit mit Clarissa war wunderschön, jedoch vermisste ich manchmal ungezwungene Männergespräche. Ich telefonierte zwar oft mit meinen Jungs aus Frankreich, aber das war einfach nicht das selbe, wie von Auge zu Auge.


Nils hatte mich als „Opfer" beleidigt. Seine Worte schwirrten mir im Kopf umher. War ich das wirklich? Panik stieg in mir auf. Ich wollte das nicht sein. Was wenn man mich auch anfangen würde zu mobben? Es war schlimm genug es jeden Tag bei Clarissa mitansehen zu müssen. Da konnte ich es nicht noch selbst ertragen! Plötzlich wurde mir das Messer in meiner linken Hosentasche bewusst. Ich bräuchte es nur herauszuziehen und anzusetzen. All meine Probleme wären vergessen. Aber nur für den Augenblick, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Danach wäre alles genauso schlimm. Genauso trostlos, hoffnungslos. Ich wusste, dass die Stimme recht hatte, doch der Wunsch mit der Klinke über meine Haut zu fahren und das rote Blut fließen zu sehen, war einfach überwältigend. Ich musste es tun! Jetzt sofort! Ich spielte seit Monaten den Starken und keiner blickte je hinter meine Fassade. Ich war es so leid. Ich wollte das alles nicht mehr länger mitspielen. Andauernd sah ich meinen Vater vor mir. Wie er mit erhobener Hand über mir stand. Oder mit einem Stuhl. Oder aber auch seit Neustem mit seinem Gürtel.


Er war letztes Wochenende wieder zuhause gewesen. Wütend, betrunken. Ich hatte nur ein falsches Wort gesagt und er war ausgerastet. Er hat seinen Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose gezogen und zugeschlagen. Immer und immer wieder. Ich hatte geschrien. So wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte, doch es hatte ihn nicht gekümmert. Es kümmerte ihn nie. Meine Mutter hatte mal wieder auf dem Sofa gesessen und zugeschaut. Pure Erleichterung hatte in ihrem Gesicht gestanden und sie hatte gelacht. Sie hatte über meine Schmerzen gelacht. Darüber wie ich am Boden lag und meinen Vater angeflehte hatte endlich aufzuhören. Sie hatte gelacht.


Irgendwann war Blut über meinen Rücken und meine Schultern geflossen. Dann endlich, hatte er von mir abgelassen. Mich liegen lassen, während ich immer weiter geblutet hatte. In diesem Moment hatte ich mir gewünscht zu verbluten. Ich hätte den Tod mit offenen Armen empfangen. Doch ich hatte mich aufgerafft. Das Blut weggewischt und meinen Wunden versorgt. Lange roten Striemen zierten nun zusätzlich meinen Rücken und Teile meines Oberkörpers. Dazu kamen die roten Linien auf meinem Arm. Die Buchstaben hatten endlich angefangen zu verblassen, doch würden sie wohl trotzdem immer sichtbar sein. Die anderen zwei roten Linien waren noch deutlich zu erkennen. Es war ja auch erst zwei Wochen her, dass ich sie mir zugefügt hatte.


Gerade, als ich das Paket aus meinen Händen legen wollte, um mein Messer hervor zu holen, erschien ihr Gesicht hinter der nächsten Ecke. Ein breites Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus und auf einmal waren meine Sorgen nur noch Nebensache geworden.

Ich wusste jetzt wieder, wieso ich aufgestanden war, wieso ich immer noch am Leben war. Sie war der Grund. Sie riss mich einfach immer wieder aufs Neue in ihren Bann und ich konnte es kaum erwarten sie endlich in die Arme schließen zu können.

Auch auf ihrem Gesicht erschein ein strahlendes Lächeln und sie stürzte förmlich auf mich zu.

„Bonne anniversaire chérie", sagte ich zärtlich.

Als ich ihr mein Geschenk überreichte und ihr erläuterte, dass das nur Part 1 war, sah ich wie ihre Augen anfingen zu glitzern. Vereinzelnde Tränen hatten sich in ihre Augenwinkel geschlichen. Ich hoffte stark, dass sie vor Freude weinte und nicht aus Entsetzten oder einem anderem Grund. Die Tränen ignorierend, umarmte sie mich stürmisch, als sie mein Geschenk ausgepackt hatte. Ein riesen Stein fiel mir vom Herzen. Die Jacke gefiel ihr! Ich hatte mich lange mit der Frage auseinander gesetzt, was ich ihr schenken sollte und war schließlich auf die Idee mit der Daunenjacke gekommen. Schließlich hatte sie nur diesen dünnen Lederfummel, den sie jeden Tag trug und jeder halbwegs normale Mensch konnte sehen, wie sehr sie darin fror. Aber das war noch nicht alles was ich ihr schenken würde. Dieser Tag würde für sie hoffentlich unvergesslich werden!

Als sie dann küssend über mich herfiel empfand ich nur noch pure Freude und Glück. Ich war so froh sie zu haben! Leider wurden wir allzu schnell in die Realität zurückgeholt. Der Schulgong ertönte und es wurde für uns Beide höchste Zeit die Höhle des Löwen zu betreten.


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