Kapitel 42

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Irgendwann kamen keine Tränen mehr und ich richtige mich langsam auf. Dabei stützte ich mich an der Wand ab, weil ich absolut am Ende meiner Kräfte war. Vorsichtig hob ich meine Tasche vom Boden auf und torkelte dann in Richtung Flur. Unterwegs musste ich immer wieder stehen bleiben und mich irgendwo abstützen, damit ich nicht umfiel. Schließlich erreichte ich den Flur, in dem mein Spind sich befand und blieb ich wie angewurzelt stehen.

In meinem Herzen machte sich ein dumpfer Schmerz breit und ich hätte am liebsten geschrien. Mein Magen fing an zu rebellierend ich hätte mich am liebsten übergeben.

Vor meinem Spind stand Karim. Doch er war nicht allein. Melissa stand direkt vor ihm und hatte ihre Hände in seinem Nacken verschlungen. Die Beiden küssten wild miteinander. Vor Schock rutschte mir meine Tasche von der Schulter und prallte laut auf dem Boden auf.


Die Beiden fuhren auseinander. Auf Melissas Gesicht breitete sich ein triumphierendes Lächeln aus, während Karim Gesicht sich vor Schock und Entsetzten weitete. Ich starrte die Beiden einfach nur an. In mir drinnen war gerade etwas zerbrochen. Ich schüttelte nur den Kopf. Wie konnte ich nur so naiv gewesen sein? Wie hatte ich auch nur eine Minuten glauben können, dass mich jemand lieben würde? Wie hatte ich glauben können, dass ich jemanden auch nur ansatzweise etwas bedeuten würde?! Nils hatte recht gehabt! Er hatte nur mit mir gespielt!


„Clarissa", begann Karim, doch ich unterbrach ihn.

„Du hast gewonnen. Das Spiel ist aus", sagte ich matt und hob meine Tasche auf. Dann drehte ich mich um und ging langsam zurück. Ich war wie erstarrt. Konnte nichts fühlen außer den stechende Schmerz, der durch  meinen ganzen Körper pochte. Karim hatte nur mit mir gespielt. Er hatte mich keine Sekunde geliebt, sonder mir die ganze Zeit etwas vorgespielt. 


Sobald die Beiden mich nicht mehr sehen konnte fing ich an zu rennen. Ich wusste nicht woher ich die Kraft nahm, doch ich musste so schnell wie möglich raus aus diesem Gebäude!

Ich hörte wie Karim mir meinen Namen hinterher rief, doch ich drehte mich nicht um. Ich lief immer weiter und weiter, bis ich auf dem Schulhof stand. Kalte Luft empfing mich. Doch ich konnte sie  nicht fühlen.Der Schmerz in meiner Brust übertönte jegliche andere Art von Gefühlen oder Empfinden.

Ich rannte quer über den Schulhof, durch das Tor, an dem Karim jeden Morgen auf mich gewartete hatte, bis ich irgendwann auf der Straße stand. Doch ich rannte weiter, immer weiter, bis mich plötzlich jemand am Arm festhielt und zu sich herum riss.


Ich blickte in die schmerzerfüllten Augen von Karim.

„Clarissa, es tut mir so unglaub...", fing er an zu sprechen, doch ich riss mich von ihm los.


„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen! Ich hätte nie so naiv sein dürfen, um auf dieses Spiel herein zufallen! Gott war ich dumm!!!", verzweifelt schüttelte ich den Kopf. „Aber ich will dir keine Vorwürfe machen! Die Zeit, die ich mit dir verbracht habe war wunderschön, auch wenn sie von deiner Seite aus nur gespielt war, war es trotzdem wunderschön. Ich hab schon vor langer Zeit akzeptieren müssen, dass ich es nicht wert bin geliebt zu werden, doch du hast mir das Gefühl gegeben, doch etwas zu bedeuten. Mein Vater hat früher immer gesagt, dass im Leben, Momente kommen werden, wo man sich nicht sicher ist, ob man das Richtige tut. Doch er war auch der Auffassung, dass dann etwas passieren würde, was einem Klarheit verschafft. Ich war mir so unsicher, ob es richtig war mit dir zusammen zu sein. Ich hab nämlich nicht verstanden wieso du mich so magst! Aber jetzt weiß ich es! Es war ein Fehler! Ein riesen großer Fehler!"


Erst bei meinen letzten Worten fingen an mir Tränen ganz leise das Gesicht runter zu rennen. Ich hatte alles gesagt was ich sagen wollte. Ich war ihm nicht böse. Er hatte schließlich nichts falsch gemacht. Ich war einfach zu naiv gewesen. Hatte mich der wunderschönen Illusion hingegeben von jemanden geliebt zu werden.


Ich hatte nur noch eine Sache zu tun, dann konnte ich gehen. Also zog ich langsam die warme, weiche Daunenjacke aus, sowie seinen Schal und die wunderschöne Kette, die ich nur einmal tragen durfte.

„Die Sachen gehören dir. Tausch sie um oder schenk sie Melissa", sagte ich leise. Mit diesen Worten überreichte ich ihm die Sachen. Er stand immer noch stumm vor mir und guckte mich ungläubig und traurig an. 

„Danke, dass du mir für kurze Zeit das Gefühl gegeben hast, etwas Besonderes zu sein", hauchte ich und wischte mir die Tränen von den Wangen. „Au revoir, Karim."


Mit diesen Worten drehte ich mich um und setzte meinen Weg fort. Es gab jetzt nur einen Ort auf der Welt an dem ich jetzt sein musste. Die Kälte kroch langsam durch meine dünnen Klamotten. Jetzt schon vermisste ich die Daunenjacke, doch ich hätte sie nicht behalten können. Die Erinnerung, die mit ihr verbunden waren, waren zu schmerzvoll. Er hatte mir das alles nur vorgespielt! Was er für einen Ekel empfunden haben musste, als er mich geküsste hat!


Irgendwann fing ich wieder an zu rennen, bis ich endlich das schwarze, eiserne Tor des Friedhofes sehen konnte. Das Grab von meinem Vater und meinem Bruder befand sich in der hintersten Ecke. Rasch machte ich mich auf den Weg. Ich war schon viel zu lange nicht mehr hier gewesen. 


Endlich kam das Grab in Sicht und so sprintete ich die letzten Schritte. Die Blumen waren vertrocknet und die Kerze war längst ausgegangen. Es sah genauso trostlos und zerstört aus, wie ich mich fühlte. 

Vor dem Grab fiel ich auf die Knie.


„Papa, Jace! Es tut mir so leid", schluchzet ich. „Ich hab euch versprochen immer stark zu sein und mein Leben weiter zu leben, doch ich kann einfach nicht mehr. Es gibt keinen Menschen mehr, dem ich etwas bedeute!" Tränen rannen mir meine Wangen hinunter und ich gab es auf sie fort zu wischen.

„In der Schule werde ich von allen nur gemobbt. Sie nennen mich „Schlampe" oder „Missgeburt" oder noch viel schlimmer! Und zuhause terrorisiert mich Mama. Sie hasst mich! Und, und, und sie schlägt mich Papa", sagte ich stockend.

Meine Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern.


„Vielleicht könnt ihr euch das jetzt nicht vorstellen, doch glaubt mir sie tut es. Immer und immer wieder. Ich kann das nicht mehr ertragen! Doch wisst ihr, ich hätte das alles über mich ergehen lassen, hätte mich Karim nur nicht so verarscht. Ich dachte er würde etwas für mich empfinden! Ich dache ich würde ihm etwas bedeuten! Doch das tue ich nicht", schniefte ich. 

„Er hat nur mit mir gespielt und sich hinter meinem Rücken über mich lustig gemacht, wie all die Anderen. Er war der Grunde wieso ich noch am Leben war! Doch jetzt gibt es keinen Grund mehr.

Ich will nicht mehr!", schrie ich verzweifelt.


Dann kippte ich vor Erschöpfung einfach um.


Und so lag ich da. Halb auf der vereisten Erde und halb auf dem Grab. Ich hatte keine Kraft mehr, um mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Die Kälte ließ meinen ganzen Körper erzittern. Meine Zähne fingen an aufeinander zu klappern.

Quälend langsam sank meine Körpertemperatur immer weiter nach unten. Ich würde hier erfrieren. Doch das war mir egal. Besser als sich von einem Hochhaus zu stürzen oder Tabletten zu schlucken. Wie lange ich so dalag konnte ich nicht sagen, doch irgendwann fingen an meine Finger taub zu werden. Kurze Zeit später konnte ich auch meine Füße nicht mehr spüren.

Irgendwann fing es an zu schneien. Leise rieselten kleine Schneeflocken auf die Erde hinunter und bedeckten alles mit einer hauchzarten Schneeschicht. Wie eine Decke legte sich der Schnee um mich und half den ganzen Prozess zu beschleunigen. Völlig erschöpft schloss ich friedlich die Augen. Bald würde ich wieder mit meinem Vater und meinem Bruder vereint sein. Ein kleines Lächeln breitete sich, bei dem Gedanken, auf meinem Gesicht aus

Und dann wurde plötzlich alles schwarz um mich herum.


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