Kapitel 63

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„Was ist passiert", fragte Karim nach einer Weile. Ich lag immer noch an seiner Brust und weinte. Die Tränen wollten einfach nicht aufhören. „Hat Nils dir wieder etwas angetan?"

Als dieser Name fiel schluchzte ich laut auf. Ich konnte ihm nicht antworten. Also durchnässte ich lieber weiterhin sein Shirt. Für einen Moment blieben wir so liegen, doch dann fing Karim wieder an zu sprechen. Ich mochte den Klangs seiner Stimme, doch ich konnte ihm nicht antworten. Es tat zu weh. Ich wollte nicht.

„Chérie", sagte er sanft und küsste mich auf meinen Scheitel. „Isch kann dir nur helfen, wenn du mir erzählst was vorgefallen ist."

Da hatte er recht. Doch ich wollte nicht. Es schien, als ob ich verlernt hätte zu sprechen. Ich öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Ich weinte noch mehr. Dann endlich antwortete ich ihm mühselig. Jedes Wort kostete mich enorme Anstrengung.

„Nils war es nicht", brachte ich hicksend hervor. „Es warne die anderen. Matt, Melissa."

„Was haben sie gemacht?", fragte er ruhig.

Stockend begann ich zu erzählen. Wie Matt mit allem angefangen hat, wie ich mich auf das Mädchenklo geflüchtet habe, wie Melissa und ihre Freundinnen herein gekommen sind, bis zur er Szene mit Lukas. Während der ganzen Erzählung heulte ich bitterlich weiter. Ich konnte nicht sagen, ob es mir gut tat darüber zu reden oder nicht. Es war auf alle Fälle ziemlich komisch.

„Ich will nicht wieder dorthin zurück gehen, Karim. Ich ertrage keinen einzigen weiteren Tag dort", flüsterte ich leise. „Das macht mich kaputt. Ich kann nicht mehr."

„Je sais, chérie, je sais", hauchte er traurig. „Aber isch habe gute Nachrichten. Isch habe mit meinem Kumpel Hugo aus Frankreich telefoniert. Seine Familie besitzt ein ziemlich großes Haus in Paris. In ihrem Garten steht ein alter Schuppen, der früher als Gästezimmer gedient hat, bis sie ihr Haus umrenoviert haben. Er hat gesagt wir können jeder Zeit kommen und dort wohnen, bis wir eine richtige Lösung gefunden haben." Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.

Vollkommen baff blickte ich zu ihm hoch. Ich hatte aufgehört zu weinen.

„Wirklich?", fragte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das wirklich wahr ist.

„Wirklisch, chérie! Wir können von hier weg! Du musst nie wieder in diese scheiß Schule gehen und isch muss meinen Vater nie wiedersehen!!! Ist das nicht unglaublisch?", sagte er.

Das Lächeln auf seinem Gesicht war so unglaublich breit und er wirkte seit Tagen mal wieder richtig glücklich. Auch ich freute mich bei dem Gedanken von hier wegzukommen. Das wäre so unfassbar toll! Doch meine Freude wurde durch meine Selbstzweifel zerstört. Mir waren heute so viele Beleidigungen an den Kopf geworfen wurden, dass von meinem ohnehin schon erbärmlichen Selbstbewusstsein nichts mehr übrig war. War ich wirklich so hässlich, wie Matt gesagt hatte? War ich nichts weiter, als ein Stück Dreck? War ich so erbärmlich, wie Melissa mich genannt hatte?

Es musste so sein, wieso sollten sie sonst so etwas sagen? Und Lukas hatte gesagt, dass er ausgehungerte Körper widerlich findet. Also war ich auch widerlich. Ekel stieg in mir hoch. Ich war eine schreckliche Person! Automatisch wich ich von Karmin weg und setzte mich auf. Nicht zum ersten Mal, fragte ich mich, was er an mir fand. Er konnte unmöglich auf Skelette stehen oder mich hübsch finden. Den ich war nicht hübsch. Ich war hässlich, so wie es mir schon so viele Leute gesagt hatten. Wieso sollten all diese Leute lügen und sich irren?

„Wieso bist du mit mir zusammen, Karim?", fragte ich ihn.

Ein Teil von mir wollte, dass er mir erklärt, was er so sehr an mir mag. Doch der andere Teil, der größere Teil, wollte, dass er mit den Schultern zuckte und sagte, dass er es nicht wüsste, dass er mich eigentlich gar nicht so toll findet. Dann hätte ich die volle Bestätigung dafür, dass ich ein schrecklicher, hässlicher Mensch bin. Dann könnte ich vielleicht Frieden finden. Ich könnte dann von einem Hochhaus springen, da mich kein Mensch mehr vermissen würde oder ich könnte so viele Tabletten schlucken, dass ich nie wieder aufwachen würde. Ich könnte mir auch die Pulsader ausscheiden, doch ich habe gehört, dass die meisten das nicht schafften. Man musste richtig tief in die Haut eindringen. Davor würde ich wohl eher in Ohnmacht fallen.

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