Kapitel 56

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Trotz der lautstarken Proteste von Karim, ich sollte doch ein Taxi nehmen, hatte ich mich zu Fuß auf den Weg zu der Wohnung gemacht. Der Weg war nicht sonderlich weit. Ungefähr 15 oder 20 Minuten zu Fuß. Ich benötigte diese freie Zeit einfach, um mir Gedanken um das Bevorstehende zu machen. Es stand außer Frage, dass meine Mutter ziemlich wütend auf mich sein würde, da ich seit über einer Woche nicht mehr zuhause war. Früher hätte mir der Gedanke Angst gemacht, meiner zornigen Mutter gegenüber zu treten, doch heute machte mir das eigentlich nichts mehr aus. Zu viel hatte sie mir schon angetan, dass es wohl kaum schlimmer kommen könnte. Obwohl schlimmer geht bekanntlich ja immer. Kurz wanderten meine Gedanken zu Karim und seinem Vater. Was er Karim antat war schon echt krass. Ich war mir nicht ganz sicher, ob meine Mutter so etwas auch tun würde oder nicht. Ich tendierte aber eher zu nein. Dafür hatte sie dann doch zu viel Herz. Zumindest hatte sie das früher gehabt. Sie war einer der nettesten Menschen die ich gekannt hatte. Sie war zwar nicht immer nett und fair zu mir gewesen, doch dafür war sie umso netter zu Jace gewesen. Er war ihr allergrößter Schatz gewesen. 

Der tollste Sohn auf Erden. Doch, obwohl sie mich öfters vernachlässigt hatte, war sie eine tolle Mutter gewesen und ich hatte in einer echt tollen Familie gelebt. Meiner Mutter wäre es früher nie eingefallen einfach so zuhause zu bleiben, während eines ihrer Kinder im Krankenhaus gelegen hat. Im Gegensatz zu heute.Die Tatsache, dass ich ihr so wenig bedeutete, dass sie es noch nicht mal interessierte wie es mir ging, schockte mich ehrlich gesagt schon ein bisschen. Dabei sollte ich es doch eigentlich längst gewohnt sein. Doch es überraschte mich immer wieder aufs Neue, wie wenig Interesse sie an mir hatte und wie wenig sie für mich empfand. Waren Mütter nicht dazu verpflichtete, ihre Kinder zu lieben und sich um diese zu kümmern? Vor kurzem hatten mich das deutliche Desinteresse meiner Mutter und ihre nicht vorhanden Liebe für mich, traurig gestimmt. Ich habe nicht verstanden, wie sie so werden konnte. Doch jetzt stimmte mich das Ganze nur noch unfassbar wütend! Ich hasste sie für dass, was sie mir tagtäglich antat, für die körperlichen und seelischen Qualen, die sie mir bereitete und für ihre Desinteresse an meinem Leben. Ich hasste sie so abgrundtief!!! Und doch hatte ich noch ein Funken Liebe für sie übrig. 

Sie war meine Mutter. Und würde es immer bleiben. Die einzige Familie, die ich noch hatte. Doch nun viel es mir endlich nicht mehr schwer sie endgültig zu verlassen. Familie hin oder her. Nie wieder wollte ich mit ihr zusammen unter einem Dach leben! Hoffentlich musste ich das auch nie wieder! Karim hatte gesagt, dass ich bei ihm wohnen könnte, bis wir eine bessere Lösung gefunden hatten. Vielleicht hatten wir diese auch schon. Die Idee einfach nach Frankreich abzuhauen, klang zwar ziemlich verrückt, doch es wäre die perfekte Lösung. Karim wäre seinen verkorkste Familie los und ich meine Mutter. Hoffentlich würde das klappen. Endlich von hier weg zukommen war ein Traum. Nie wieder müsste ich meine Mutter sehen und ich müsste nie wieder in diese verdammte Schule gehen! 

Ich wäre Nils und Melissa für immer los!Das Mehrfamilienhaus, indem sich unsere Wohnung befand kam in Sicht und ich verlangsamte meine Schritte. In meiner Hand hielt ich die große, schwarze Sporttasche von Karim, in die ich gleich meine Sachen räumen würde. Ich selbst besaß weder einen Koffer noch eine größere Tasche, also hatte er mir netterweise eine von sich geliehen.Langsam schloss ich die schwere Haustür auf und fing an die Treppenstufen zu erklimmen. Angst breitete sich in mir aus. Vielleicht war sie auch gar nicht zuhause? Vielleicht hatte sie ja wieder einen neuen Freund und war bei ihm?So leise wie möglich schloss ich unsere Tür auf. In der Hoffnung, dass meine Mutter wirklich nicht zuhause sein würde, schlich ich in den Flur hinein und ließ die Tür hinter mir leise ins Schloss fallen. 

Dann machte ich mich ohne Umwege auf den Weg in mein Zimmer. Unterwegs erhaschte ich einen Blick in die Küche. Das dreckige Geschirr stapelte sich in der Spüle und die Arbeitsfläche, war mit Krümeln und Staub übersät. Leere Alkoholflaschen standen oder lagen herum. Traurig, dachte ich mir. Noch vor zwei Wochen hatte ich mich um all diese Dinge kümmern müssen. Ich hatte gekocht, geputzt und das Geschirr abgespült. 

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