ATEMNOT

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*Wincent*

Der heutige Studio-Tag zerrte an meinen Nerven. Eigentlich recordete ich total gerne, aber ich war nicht ganz bei der Sache. Das Gespräch von Ann und mir gestern ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Dass sie sich nicht meldete, beunruhigte mich zusätzlich. Hatte ich etwas falsch gemacht? Oder war etwas passiert? Ging es ihr gut?
Kevin verlor gegen Mittag dann die Nerven und rief Franzi an. Allerdings wusste sie auch nur, dass Ann auf Arbeit war. Kevin und Franzi quatschen noch kurz, während ich zum wiederholten Male versuchte, meine Freundin zu erreichen. - Ohne Erfolg.
Ich schmiss mein Handy frustriert neben mich auf die Couch und schloss die Augen.
"Hier." Kevins Stimme ließ mich die Augen wieder öffnen und dankbar nahm ich das Bier entgegen, das er mir reichte.
"Nicht so einfach, oder? Ich meine, ihr wart jetzt so lange zusammen und dann wieder getrennt sein ist scheiße." Kevin sah mich mitfühlend an.
"Mhm."
"Ist das noch mehr? Etwas, worüber du reden willst?"
Ich dachte nach. Eigentlich wollte ich meine Gedanken gerne mit ihm teilen, aber ich wusste nicht, ob Ann das wollte. Ich meine, die ganze Sache war schon sehr privat eigentlich. Kevin konnte ich zu 100% vertrauen, daran lag es nicht, aber dennoch war ich unsicher.
"Es ist... nicht so einfach", sagte ich.
"Okay... " Kevin wartete.
"Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen darf."
"Musst du nicht."
"Ich würd aber gerne", gab ich zu.
"Dann pass auf. Du erzählst es einfach... deinen Notizen. Und zufällig bin ich auch da."
Kevins Idee klang zwar vollkommen bescheuert, aber für meinen Kopf war es okay. Deshalb begann ich, Kevin die ganze Geschichte zu erzählen. Als ich das Telefonat von gestern dadurch noch ein weiteres Mal Revue passieren ließ, ergriff wieder die Sorge um Ann die Oberhand. Ich musste sie erreichen und wissen, dass es ihr gut ging.
"Hey Wince. Ey, schau mich an!" Kevin rüttelte an meiner Schulter. "Es ist alles gut, okay?"
Ich sah ihn einfach nur an und versuchte mich auf das Heben und Senken seines Brustkorbes zu konzentrieren.
"Wince, tief durchatmen. Mit mir gemeinsam, komm schon."
Ich versuchte Kevins Anweisungen zu folgen und erstaunlicherweise gehorchte mir mein Körper sogar wieder.
Das Klingeln meines Handys holte mich endgültig wieder zurück, vor allem als das Bild von Ann auf dem Bildschirm auftauchte. Sofort nahm ich den Anruf an.
"Schatz, endlich!"
"Wince", wimmerte Ann am anderen Ende.
Fuck ey!
"Ann, was ist?", fragte ich besorgt und betete inständig, dass ich ihr irgendwie helfen konnte.
"Da..." Sie atmete schwer. "Da sind zwei Männer hinter mir. Ich hab Angst", flüsterte sie.
"Okay, okay. Ich bin ja hier. Wo bist du?"
"Gleich... Zuhause."
"Und wo ist Franzi?"
"Die musste nochmal in die Stadt." Ann schluchzte kurz auf. "Ich dachte, ich schaffe die zehn Meter alleine."
Mein Herz zog sich unwillkürlich zusammen. "Shhh, ich bin hier. Alles gut."
"Kannst du... mich... bitte... ablenken?"
Ich überlegte fieberhaft und versuchte, den besorgten Blick von Kevin zu ignorieren. "Schatz, erinner dich an unseren Urlaub. Der Ausblick über die Berge, die weiße Landschaft, die frische Luft..."
Ann atmete noch immer recht schnell und so schwärmte ich ihr weiter von unserer gemeinsamen Zeit in den Bergen vor. Es schien zu funktionieren, denn sie atmete ruhiger. Als ich den Schlüssel im Schloss hörte, fiel die Anspannung von mir ab.
"Also frische Luft könnte ich auch echt mal wieder gebrauchen", sagte Ann. "Diese Stadt treibt mich noch in den Wahnsinn."
"Und was ist mit deinem Job?"
"Der ist sowieso eine Katastrophe. Aber nicht so schlimm wie die Paranoia."
"Hey, du bildest dir das bestimmt nicht alles ein. Du hast ein Trauma", erinnerte ich sie.
"Wince, ich sehe an jeder Ecke nur noch Verbrecher!", kam es verzweifelt zurück.
Hilfesuchend sah ich zu Kevin und als er nickte, stellte ich das Telefonat auf laut.
"So schlimm?", hakte ich nach.
"Noch schlimmer", lautete die Antwort. "Ich kann nicht alleine auf die Straße, weil ich bei jeder Stimme hinter mir in Panik verfalle. Vor allem Männerstimmen sind schlimm."
"Hä? Wir waren doch danach auch noch zusammen unterwegs. Da ging es doch auch." Ich war verwirrt und absolut überfordert.
"Ja, aber da warst du dabei." Sie schwieg kurz. "Ich kann das alles nicht mehr."
"Gibst du mir zehn Minuten? Ich ruf dich dann wieder an, versprochen." Ich hatte eine Idee, aber die musste ich jetzt erst einmal Anna und Kevin verkaufen.
"Okay. Ich esse solange mal etwas."
"Mach das. Bis gleich. Ich liebe dich."
"Ich dich auch. Und danke für alles."
Kevin sah mich fragend an, als das Telefonat zu Ende war. "Was hast du vor?"
"Können wir die Aufnahmen verschieben? Nur um wenige Tage", bat ich ihn.
"Okay. ABER nur, wenn Anna damit einverstanden ist."
Ich nickte. "Danke." Dann nahm ich mein Handy und wählte die Nummer meiner Managerin.
Nachdem ich ihr kurz geschildert hatte, dass ich in Rücksprache mit Kevin aus privaten Gründen schon heute nach Berlin fahren würde, stimmte sie zu. Immerhin war ich nach dem Radiokonzert bei 104.6 RTL wieder im Studio.
Nach dem Telefonat fuhr Kevin mich nach Hause und ich schmiss noch einige Sachen in den Rucksack. Dann ging es los zum Flughafen. Ich wollte Ann überraschen und deshalb schrieb ich ihr nur, dass Kevin mich mit Arbeit beschlagnahmt hatte und wir später reden würden. Stimmte zwar nur halb, aber egal. Notlügen waren vollkommen okay.
"Pass auf dich und euch auf, okay?" Kevin nahm mich noch einmal fest in den Arm.
"Mach ich. Grüß du die anderen Jungs."
Ich ging zum Gate, steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und hörte die Songs an, die Kevin mir als mp3 geschickt hatte. Ein bisschen arbeiten konnte ich ja unterwegs. In Berlin angekommen, nahm ich mir ein Taxi zu Anns Wohnung. Mit klopfendem Herzen stand ich schließlich vor ihrer Tür und klingelte. Es dauerte einen Moment, bis sich die Gegensprechanlage meldete.
"Ja?"
"Hey Schatz."
"Wince?" Sie flüsterte nur.
"Ja."
"Oh mein Gott."
Die Tür summte und ich ging hinein. Am liebsten wäre ich jetzt die Treppe nach oben gesprintet, wo Ann mir vermutlich schon auf der Hälfte entgegen kam. Allerdings hatte sie ja noch so einen blöden Gipsfuß und ich eine Schiene. Dennoch war mein Fuß noch längst nicht wieder ganz fit und jede Stufe nervte mich. Allerdings nur so lange, bis ich vor Anns Wohnung stand. Vollkommen fertig stand sie im Türrahmen. Ich überwand die wenigen Meter vor mir und drückte meine Freundin ganz fest an mich.
"Du bist verrückt", flüsterte Ann an meiner Brust. "Aber ich bin sehr froh, dass du hier bist."
Wir lösten uns kurz aus der Umarmung und gingen in die Wohnung. Ich zog fix Schuhe und Jacke aus und dann kuschelten wir uns aufs Sofa. Es tat unglaublich gut, Ann wieder im Arm zu haben.
"Musst du nicht arbeiten?", fragte Ann.
"Heute nicht mehr. Und ich wäre morgen eh nach Berlin gekommen. Wir haben ein Konzert im Radio mit exklusivem Live-Publikum", erklärte ich. "Also wirst du mich jetzt wenige Tage eher nicht los."
"Nicht schlimm", murmelte sie und kuschelte sich an meine Brust.
Den restlichen Abend verbrachten wir genau so und irgendwann fielen uns die Augen zu. Offenbar hatte der Tag Spuren hinterlassen.
Am nächsten Morgen weckte mich mein Handy. Noch komplett müde tastete ich danach und nahm den Anruf an.
"Ja?"
"Wince? Wo zur Hölle steckst du?" Amelie schien nicht bemerkt zu haben, dass ich noch nicht ganz wach war.
"Guten Morgen erst einmal", murmelte ich. "Ich bin bei Ann. Was gibt es denn?"
"Man ey! Kannst du das nicht vorher schreiben? Ich steh seit einer halben Stunde am Bahnhof und warte auf dich, du Vogel."
"Sorry. War spontan gestern."
"Ich merk schon. Naja, wie dem auch sei. Ich hol dich in einer Stunde ab, okay?"
"Mhm. Ich schick dir die Adresse."
"Perfekt, danke. Bis später." Amelie legte auf.
Ich seufzte, schickte ihr einfach meinen Standort und stand vorsichtig auf. Ann war in der Nacht mit dem Kopf von meiner Brust an meine Schulter gerutscht. Mein Glück, denn so konnte ich sie vorsichtig wegschieben, einige Kissen stapeln und sie wieder hinlegen. Ich warf noch einen letzten Blick auf Ann, aber sie schlief tief und fest. Im Bad spritzte ich mir Wasser ins Gesicht, um wach zu werden. Dann ging ich in die Küche und bereitete einige Toasts als Frühstück für Ann und mich vor.
"Wince!"
Anns Stimme ließ mich sofort das Glas Wasser abstellen, was ich gerade trinken wollte, und ins Wohnzimmer gehen. Ich setzte mich neben Ann aufs Sofa.
"Hey Schatz, ich bin hier. Alles ist gut", sagte ich und strich ihr durch die nass geschwitzten Haare. Offenbar hatte sie schlecht geschlafen.
"Wince", flüsterte sie wieder.
"Ich bin da." Leicht verzweifelt sah ich zu meiner Freundin hinunter. Der Gedanke daran, in einer dreiviertel Stunde von ihr weg zu müssen, zerriss mich fast. Ich angelte nach meinem Handy und wählte Amelies Nummer.
"Hey, du Chaot. Was gibt's?"
"Ich brauch deine Hilfe", war das Einzige, was ich herausbrachte.

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