Kontrollverlust

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*Annemarie*
Quälend langsam schälten wir uns am nächsten Tag aus dem Hotelbett. Wincent bestellte uns das Frühstück auf das Hotelzimmer. So konnten wir gleichzeitig packen und frühstücken.
„Ich liebe diese Zweisamkeit."
„Ich auch. Im Tourbus hätten wir sie all die Wochen nicht und vielleicht ist das ja unser Geheimrezept. Wir können uns zurückziehen und hängen nicht den gesamten Tag und die Nacht mit allen anderen aufeinander", überlegte Wincent laut.
„Vielleicht. Hauptsache wir gehen uns nicht irgendwann auf die Nerven."
„Glaube ich nicht. Und wenn, dann finden wir eine Lösung." Ich grinste Wincent breit an und biss von meinen Brötchen ab.
Nach einer kurzen Einheit im Fitnessstudio fuhren wir wieder in den Norden. Je nördlicher wir kamen, umso schlechter wurde das Wetter.
„Das sieht gar nicht gut aus."
„Nein, aber heute Abend soll es meistens trocken bleiben. Und außerdem sind wir ja nicht aus Zucker."
„Vielleicht ja doch", antwortete ich ernst.
Wincent lachte, ging aber nicht weiter auf meine Anmerkung ein. Kurz standen wir noch im Stau, aber dann wurde das Wetter tatsächlich besser. Wir fuhren von hinten an die Location ran. Ich war froh heute nicht an den Fans vorbei zu müssen. Auch wenn mir das in der Regel nichts ausmachte. Trotzdem war ich heute irgendwie dankbar. Wie bei jeder Ankunft begrüßten wir den Rest der Bande und ließen uns updaten, was in der Zwischenzeit so vorgefallen war. Obwohl, oder gerade weil Franzi fehlte, war es ziemlich ruhig und wir mussten nicht viel tun. Während wir etwas aßen, ging ich nochmal die bevorstehenden Interviewfragen durch. Gekonnt strich ich mittlerweile alle Fragen durch, die zu privat waren. Anna hatte recht. So schwer war das gar nicht. Während des Interviews setzte ich mich wie gewohnt in die Ecke und hörte mit einem Ohr zu. Ich griff zu meinem Handy und schaute nach, ob ich neue Nachrichten bekommen hatte. Mindestens fünf waren von Franzi, die sich für die Auszeit bedankte aber gleichzeitig auch in jeder Nachricht nachfragte, ob wirklich alles lief. Franzi, Franzi. Nicht mal im Urlaub konnte sie abschalten. Das musste sie definitiv noch lernen. Gerade als ich mein Handy wieder weglegen wollte, ploppte eine Nachricht von meinem Vater auf. Ich atmete einmal tief durch und begann zu lesen.
»So, wie ich es deinem Status entnehmen konnte, bist du immer noch nicht zur Vernunft gekommen. Versprichst du dir wirklich eine sichere Zukunft mit ihm? So wie ich lesen konnte, hält ja noch nicht mal seine Familie etwas von seinem Beruf. Denk da mal drüber nach. Aber hier bist du so oder so nie wieder willkommen.«
Augenblicklich schossen mir Tränen in die Augen. Schnell wischte ich mir diese weg. Natürlich sah Wincent das und schaute mich besorgt an. Lautlos formte ich ein 'Alles gut, wir reden später' und konzentrierte mich nun wieder voll auf meinen Job. Kurzentschlossen schoss ich von Wincent ein Foto und stellte es in meinen Status. Kurz überlegte ich, ob ich noch etwas unter dem Bild schreiben sollte, entschied mich aber dagegen. Das letzte Interview verlief ohne Zwischenfälle. Als wir zum Catering liefen, legte Wincent seinen Arm um meine Schulter und zog mich ganz dicht an sich ran.
„Was war gerade eigentlich los?"
„Dreimal darfst du raten."
„Dieser Mistkerl... Wenn ich den das nächste Mal in die Finger kriege."
„Schhh, reg dich nicht auf. Genau das will er doch. Wir wissen, was wir haben und was wirklich zwischen uns ist. Ich muss nur damit zurechtkommen, dass ich auch keine Bilderbuchfamilie hatte. Jedenfalls nicht so, wie ich immer gedacht hatte."
„Dann wird es Zeit, dass wir der Welt zeigen, wie es besser geht." Vorsichtig zog Wincent mich noch dichter an sich ran und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Kurzerhand schloss ich die Augen und wir verharrten in dieser intimen Position.
„Na, ihr Turteltäubchen. Habt ihr gar keinen Hunger?", lachte Benni.
Wir antworteten nicht, sondern lösten uns aus unserer Position und gingen mit Benni, Richtung Catering. Nach dem Essen hatten wir noch einen Moment Zeit, bevor es hieß Stagetime. Amelie und ich wollten heute das Konzert aus verschiedenen Perspektiven für die Crewseite filmen und komischerweise hatte nicht mal mein Freund etwas dagegen. Eigentlich war er sonst der erste, der ein Veto dagegen sprach. Ich verabschiedete mich von ihm und versprach pünktlich zum letzten Song unten auf ihm zu warten. Amelie und ich hatten richtig Spaß. Jetzt wusste ich, warum Franzi den Job so abgöttisch liebte. Leicht aus der Puste sprintete ich gerade noch rechtzeitig hinter die Bühne. Wir hatten etwas die Zeit vergessen und schneller als gedacht, war Wincent beim letzten Song angekommen.
„Hey Schatz", begrüßte ich wie immer meinen Freund, der völlig euphorisch die Bühne herunterkam.
„Das war mal wieder mega geil." Wincent kam gar nicht aus dem Staunen raus.
„Fand ich auch."
Wie immer klatschte Wincent mit allen ab und bedankte sich für den reibungslosen Ablauf. Auch er steckte mich mit seiner hibbeligen Art immer mehr an.
„Sag mal, hast du nicht genug Bewegung bekommen heute?"
„Ne, irgendwie nicht. Ich könnte noch drei weitere Shows spielen."
„Echt jetzt. Aber ich bin auch nicht so wirklich müde und die Sache mit meinem Vater lässt mich auch immer wieder wütend werden", gab ich zu.
„Verstehe ich und wie vergessen wir das Ganze am Besten?"
„Mit Sport?", fragte ich gespielt unwissend.
„Genau. Hast du Lust?"
„Mit dir immer."
„Na komm, auf geht's." So schnell es ging, räumten wir unsere Sachen zusammen und zogen unsere Sportsachen an. Gerade als wir uns bei allen verabschiedet hatten, kamen uns Amelie und Mats entgegen.
„Ihr geht jetzt echt nochmal zum Sport? Haben wir das richtig mitgeschnitten?"
„Ja, was ist daran falsch?"
„Naja, ihr wart heute Morgen vor dem Konzert schon über anderthalb Stunden trainieren."
„Immer noch eine Stunde weniger als sonst."
„Annemarie, Wincent, jetzt hört mir mal zu. Das, was ihr macht, ist nicht mehr gesund. Ihr geht zwei Mal am Tag zum Sport. Wincent powert sich noch zusätzlich auf der Bühne aus. Was ist los mit euch?"
„Es ist nichts, Amelie. Wir haben einfach nur Bock drauf. Es macht Spaß"
„Leute, ich muss Amelie da recht geben, dass was ihr macht, ist absolut krank. Wincent, bei aller Liebe, dein Körper ist mehr als definiert. Wo soll das noch hinführen? Selbst den Fans fällt das auf."
„Mats, Amelie, noch einmal: Uns geht es gut. Aus einer Ablenkung wurde Spaß und nun macht es uns Freude, unseren Körper noch ein klein wenig mehr zu definieren. Mehr ist da nicht. Komm, Schatz, wir gehen. Die beiden werden uns eh nicht verstehen."
Auf dem Weg ins Gym bekam ich erneut eine Nachricht von meiner besten Freundin.
»Sorry, dass ich meine schlechte Laune an euch ausgelassen habe. Es war nicht fair. Wie war die Show? Lief alles gut?«
»Schon gut. Hast du mit Fabi gesprochen? Die Show war super.«
»Ja. Und ich glaube, ich muss auch mit Wincent sprechen. Ich habe meinen Stress, den ich mir gemacht habe, an Fabi rausgelassen. Kann ich ihn morgen anrufen?«
»Klar bestimmt. Ich frage ihn mal. Er sitzt neben mir.«
»War klar.«
„Franzi will dich morgen anrufen. Ist doch okay oder?", fragte ich meinen Freund und schaute ihn an.
„Na klar. Wir sind ja ein paar Stunden unterwegs. Sie soll einfach durchrufen."
»Also er sagt, es geht klar. Ruf einfach gegen Mittag an, dann sind wir auf jeden Fall im Auto und nicht mehr im Gym. Apropo Gym, wir gehen jetzt nochmal trainieren. Hatten heute Morgen zu wenig Zeit.«
»Viel Spaß. Übertreibt mal nicht.«
Ich antwortete nicht auf ihren spitzen Kommentar. Ich hatte keine Lust, mich auch noch mit meiner besten Freundin über dieses Thema zu unterhalten. Zum Glück war im Gym nicht mehr viel los, sodass wir entspannt unser Krafttraining durchziehen konnten. Völlig geschafft, ließ ich mich neben Wincent auf den Fußboden fallen und sah ihm bei seinen Übungen zu. Die letzte Wiederholung an der Beinpresse hätte nicht mehr nötig getan, aber ich wollte auch nicht aufgeben. Es waren doch schließlich nur fünf Kilogramm mehr. Meine Beine hörten einfach nicht auf zu zittern.
„Gibst du schon auf?", stachelte Wincent.
„Guck mal meine Beine an. Ich glaube, du musst mich heute hier raustragen", lachte ich und zeigte auf meine Beine.
Wincent beendete seine Übung und zog mich auf die Beine.
„Na siehst du, stehst von ganz alleine. Also eine Übung geht noch."
„Heute bestimmt nicht mehr. Wir sollten langsam nach Hause." Kraftlos legte ich meinen Kopf auf seine Schulter. Wincent zog mich an sich heran.
„Du hast gewonnen, aber nur, weil wir noch mindestens drei Stunden nach Hause fahren müssen."
„Stimmt und die erste Waschmaschine anstellen."
„Die armen Nachbarn", schmunzelte ich.
„Wir sind ja morgen wieder weg. Bis wir wiederkommen, haben sie die nächtliche Ruhestörung vergessen."
Bevor wir gingen, zog Wincent mich zu einem Spiegel. Wir beide brachten uns in unsere Pose und Wince machte schnell ein Foto. Zufrieden verglich er das soeben geschossene Foto mit unserem letzten Gym-Foto, welches bereits über eine Woche her war.
„Du siehst heiß aus", raunte er mir in mein Ohr und sofort bekam ich eine Gänsehaut.
„Du übrigens auch und wenn wir jetzt noch auf unsere Ernährung achten und nicht nur Pizza und co. essen würden, dann würden wir vermutlich noch ein besseres Ergebnis sehen."
„Dann bräuchte ich für dich ja einen Waffenschein."
„Den brauchst du jetzt schon", sagte ich triumphierend und drehte mich aus Wincents Arm und verschwand grinsend in die Frauenumkleidekabine. Gemütlich und ohne große Eile ging ich duschen und zog mir bequeme Sachen für die Fahrt an.
»Kommst du oder bist du unter der Dusche eingeschlafen?«, bekam ich eine Whatsapp, als ich gerade den geklauten Hoodie von Wincent über meinen Kopf zog.
Schnell griff ich nach meiner Tasche und verließ das Studio. Wincent lehnte ungeduldig an seinem BMW.
„Na, Prinzessin? Haben sie eine ausgiebige Dusche genossen?"
„Natürlich. Und du mein Prinz? Bereit mich nach Hause zu kutschieren?" Wincents Grinsen wurde immer breiter und schließlich prustete er los.
„Na komm, auf nach Hause." Mein Freund gab mir einen kleinen Klaps auf meinen Hintern. Ich musste schmunzeln, kommentierte es jedoch nicht weiter.
„Mats hat mir gerade noch die Fotos zum Posten geschickt. Magst du dir gleich mal drei oder vier Fotos aussuchen und einen Beitrag in meinem Feed posten?", fragte mich Wincent.
„Klar, hast du irgendwelche Lieblingsbilder?"
"Nein, ich vertrau dir da schon. Such dir welche aus." Schnell entschied ich mich für ein paar Fotos und verfasste einen kurzen Text darunter.
„Soll ich noch ein paar Storys reposten?"
„Wie du magst." Da ich nichts besseres zu tun hatte entschloss ich mich ein paar Stories von den Fans durchzuklicken und schließlich zwei zu reposten. Gerade als ich sein Handy wieder zurück in die Mittelkonsole gelegt hatte, rief seine Schwester an.
„Hey kleine Schwester", begrüßte Wincent sie.
„Hey Shay", schloss ich mich an.
„Hey, ihr beiden", begrüßte sie uns freudig.
„Wie geht's dir?"
„Gut, aber ich vermisse euch. Wann kommt ihr mal wieder nach Hause?"
„Wir fahren gerade nach Hause", lachte Wincent.
„Das meint sie nicht", lachte ich.
„Genau. Ich meine, wann kommt ihr wieder in den Norden. In euer echtes Zuhause? In dein Zuhause Wince und ich weiß, dass Ann sich hier auch wohl fühlt."
„Wir waren doch gerade erst da", lachte Wincent.
„Zum Arbeiten. Ihr hattet gar keine Zeit für uns", kam es klagend von der anderen Seite.
„Spätestens zum Heimspiel werden wir ein paar Tage Pause bei euch einlegen. Versprochen."
„Gut. Wince?"
„Ja, Shay, was ist los?" Wince spannte sich unbewusst an.
Behutsam legte ich meine Hand auf seine.
„Dein neues Profilbild..."
„Was ist damit?"
Parallel sah ich mir mit meinem Handy sein neues Profilbild an. Es war das Bild, welches wir vorhin im Gym gemacht hatten. Es war hübsch. Was sollte mit diesem Bild sein?

 Was sollte mit diesem Bild sein?

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„Naja. Ihr seht anders aus. Irgendwie so abgeschlagen und müde."
„Shayenne, wir sind auf Tour. Natürlich zieht das. Aber uns geht's gut."
„Besser als je zuvor. Uns geht's wirklich gut", gab ich Wincent Rückendeckung.
„Nun hört doch auf. Irgendetwas beschäftigt euch. Seit wann geht Ann mit zum Sport?"
„Seit ein paar Wochen."
„Und was ist da vorgefallen?" Shayenne blieb hartnäckig.
„Nichts, was wir nicht unter Kontrolle hätten. Alles ist gut", knurrte Wincent.
„Sehe ich, aber ihr seid ja alt genug."
„Shayenne? Gibt es sonst noch was? Wir müssen uns auf den Verkehr konzentrieren", kam es brummig von meinem Freund.
„Ich scheine einen wunden Punkt getroffen zu haben. Aber vielleicht wacht ihr jetzt mal auf. Es fällt nämlich nicht nur mir auf. Hab dich lieb, Winnie. Dich auch, Ann." Aufgelegt. Wincent atmete tief ein und aus und drückte wenige Augenblicke später auf das Gaspedal.
„Haben wir wirklich alles unter Kontrolle?", fragte ich Wincent, nach einem kurzen Moment des Schweigens.
„Ich hoffe..."

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