Der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum

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*Wincent*
Da ich dieses Jahr nur ältere Talente im Finale hatte, genoss ich es umso mehr, Jonas Hand in meiner zu halten. Die warme Kinderhand in meiner, brachte mein Herz zum Beben. Kurz blitzte vor meinem inneren Auge ein Bild auf, wie ich zum ersten mal mit meinem Kind stolz die großen Hallen entlang ging. Ob unser Kind wohl mehr nach Ann oder nach mir kam? Die Reise wird wohl die größte und spannendste in meinem Leben. Ach ne, in unserem Leben.
Dass Jonas fragte, ob er sich mal auf dem roten Stuhl hinsetzen dürfte, katapultierte mich wieder in die Gegenwart.
"Natürlich darfst du. Du darfst dir alles so genau wie möglich anschauen." In Jonas leuchteten Augen sah ich wieder Ans und meine Zukunft vor mir. Aber waren wir wirklich schon bereit für Kinder? Waren wir nicht noch selber welche? 30 war zwar alt, aber für Kinder zu früh, oder?
Schnell schob ich den Gedanken beiseite. Jetzt war Jonas dran und nicht meine Träumerei.
Die Band kam und stimmte die Instrumente, was dafür sorgte, dass Jonas fröhlich von meinem Stuhl sprang. Ich hielt ihn fest, damit er die Band nicht störte. Als sie allerdings ein Stück anspielten, konnte ich den zappelnden Zwerg nicht länger festhalten. Er lief auf die Bühne und tanzte dort herum. Dabei lachte er die ganze Zeit und hatte ganz offensichtlich den Spaß seines Lebens. Schnell zückte ich mein Handy und machte einige Aufnahmen. Von Jonas im Chefsessel gab es auch schon Bilder. Doch tanzen verausgabte den kleinen Mann so gar nicht. Außerdem sah er mich mit großen Augen an und fragte: "Tannst du bitte singen?"
"Welches Lied willst du denn?", fragte ich, denn diesen Wunsch konnte ich ihm definitiv nicht abschlagen.
"Feuerwert."
Ich ging kurz hinter die Bühne zur Tontechnik, während Jonas auf der herum sprang. Das berühmte Tor ging auf und ich stand wieder bei ihm, allerdings dieses Mal mit Mikro in der Hand.
"Könntet ihr einmal Feuerwerk anspielen?", bat ich die Band und sie nickte.
Jonas flitzte zu meinem Stuhl und kletterte hinauf. Erst wollte ich ihm helfen, aber er kam ganz knapp alleine hoch.
Die Band begann zu spielen und ich sang vor leeren Zuschauerrängen einen meiner Hits. Jonas ging in dem roten Stuhl fast unter, aber das Strahlen sah ich bis auf die Bühne. Gegen Ende der zweiten Strophe wank ich ihn zu mir und hockte mich dann neben ihn.
"Lass uns leben wie ein..."
Ich hielt Jonas das Mikrofon hin und er sang: "Feuerwert. Feuerwert, oh oh."
"Als wenn es nur für heute wär'..."
"Oh oh."
"Denn dieser Augenblick kommt nie zurück. Lass uns leben wie ein..."
"Feuerwert. Feuerwert, oh oh."
"Die ganze Welt kann uns gehör'n."
"Oh oh."
"Verbrennen die Raketen Stück für Stück und leben wie ein..."
"Feuerwert."
"Feuerwerk."
"Feuerwert."
Die letzte Zeile sangen wir dann zusammen und als ich in Jonas Augen sah, wusste ich, dass er diesen Moment nie wieder vergessen würde. Und ich auch nicht.
Doch wenn ich gehofft hatte, ihn mit Musik ein wenig zu erden, lag ich sehr falsch. Aufgeregt zog er an meinem Arm und wollte sich weiter umschauen. Ich gab an der Technik schnell mein Mikro wieder ab und folgte dem kleinen Wirbelwind. Man konnte echt nicht leugnen, dass Franzi und er verwandt waren. Also die Führungsrolle konnten sie beide perfekt.

*Annemarie*
Nachdem ich noch ein wenig mit Anja und Ingo gesprochen und vor allem Absprachen bezüglich Jonas getroffen hatte, ging ich nach oben.
"Herzlichen Glückwunsch", sagte Lena, der ich als Erstes begegnete.
"Wozu?"
"Euer Sohn ist ja mal absolut Zucker. Aber kommt mehr nach Wincent, oder?"
Ich sah Lena kurz irritiert an. "Achso. Ähm..." Ich musste leicht lachen. "Das ist nicht unser Kind. Der ist nur ausgeliehen", erklärte ich Lena.
"Oh, sorry."
"Kein Problem. Ähm, er ist mein Ziehbruder."
"Ah. Versteht sich aber top mit Wincent."
"Hab ich mir fast gedacht."
"Und er kann erstaunlich gut singen."
"Was?"
"Achso. Hast du das nicht mitbekommen? Wincent und der Kleine standen gerade zusammen auf der Bühne und haben gesungen. Purer Zucker, sag ich dir."
"Oh man. Und es gibt vermutlich keine Aufnahmen davon", seufzte ich.
„Natürlich. Auf meinem Handy. Soll ich es dir airdroppen?"
"Das wäre traumhaft. Danke, Lena."
"Nicht dafür."
Wir nahmen unsere Handys heraus und zwei Minuten später hatte ich das Video in meiner Galerie. Das wollte ich mir jetzt direkt mal anschauen.
Ich verabschiedete mich von Lena und ging in Wincents Garderobe, wo ich, wenig überraschend, alleine war. Ich öffnete das Video, regelte die Lautstärke hoch und schmolz dahin. Das musste ich direkt an Anja und Ingo schicken.
Anschließend verließ ich die Garderobe wieder, um nach meinen beiden Männern zu sehen.
Hoffentlich machten die zwei keinen Blödsinn. „Achtung!!!", brüllte jemand durch den Flur und ich drückte mich an die Tür.
Das war auch gut so, denn im nächsten Moment sauste ein Skateboard an mir vorbei.
Vorsichtig lugte ich um die Ecke und sah, wie Wincent und Jonas auf mich zukamen. Beziehungsweise vermutlich eher auf das Skateboard, das wenige Sekunden an mir vorbei gerollt war. Da hatten sich ja zwei gefunden.
Ich sah, wie Wincent sein Tempo verlangsamte.
"Ester!", rief Jonas und versuchte, das Skateboard anzuheben. „Wincent, helfen."
Wincent ging zu dem Dreijährigen und legte das Board richtig hin. Jonas sprang aufgeregt auf und ab und kletterte dann, Wincents Hände umklammernd, auf das Brett.
Ich beobachtete die beiden noch eine Weile beim Toben, bis Anna kam und Wincent informierte, dass seine Talents da waren. Die Trennung fiel sowohl Wincent als auch Jonas sichtlich schwer. Doch ich lenkte den Kleinen damit ab, dass wir uns nochmal im Studio umsahen und ich versprach, dass er Wincent gleich zuschauen durfte. Anna nickte mir zu und damit war klar, dass ich mein Versprechen ganz einfach halten konnte.
Als Wincent und sein Team zur Probe auf die Bühne geholt wurde, ging ich mit Jonas und Anna in den Zuschauerraum. Doch Jonas wollte nicht dort oben sitzen. Wincent wank ihn zu sich und stolz kletterte der kleine Mann auf Wincents Stuhl. Dort schien er sich wohler zu fühlen und die ganze Probe lang saß er still dort und verfolgte das Geschehen auf der Bühne, wobei sein Blick meistens genau Wincent suchte. Dieser strahlte förmlich und ich bekam ein warmes Gefühl im Bauch. Ob es sich auch so anfühlte, wenn da irgendwann unser eigenes Kind saß? "Wovon träumst du?", riss mich Wincent aus meinen Tagträumen. Er stand mit Jonas auf dem Arm vor mir.
"Von unserer gemeinsamen Zukunft", gab ich zu und ich merkte, wie ich rot wurde.
"Du auch? Mein Hirn spinnt auch schon den ganzen Tag. Aber wir haben noch etwas Zeit."
"Das haben wir. Und solange können wir noch mit Jonas üben. Auch wenn Lena uns schon gratuliert hat", lachte ich.
"Hat sie? Wozu das denn?"
"Na, zu unserem Sohn."
Wincent grinste. "Find ich sehr gut."
"Ich auch", stimmte ich ihm zu.
Wincent gab mir einen Kuss. Zumindest probierte er es, denn gerade als sich unsere Lippen berührten spürte ich eine kleine Hand in meinem Gesicht.
„Mein Wincent. Nicht küssen, Ann. Ihhh"
„Da will dich wohl jemand ganz alleine."
„Scheint so", flüsterte Wincent gegen meine Lippen.
„Na dann hoffe ich mal, dass unsere Kinder das etwas anders sehen. Nicht, dass ich dann abgeschrieben bin."
„Niemals bist du abgeschrieben."
Die Zeit bis Drehbeginn verbrachten wir zu hauptsächlich zu dritt, wobei ab und zu auch Mats dabei war und den Tag festhielt. Jonas fand das so spannend, dass er irgendwann die Kamera haben wollte. Wincent gab ihm dann sein Handy, womit Jonas auch zufrieden war. Stolz wie Otto stolzierte er dann durchs Studio und füllte Wincents Galerie. Wie gut die Bilder waren, die ein Dreijähriger machen konnte, sei jetzt dahingestellt, aber er hatte Spaß. Irgendwann gab er das Telefon wieder ab und sorgte einfach so für Unruhe am Set. Vor allem, wenn Wincent für Interviews und Einspieler vor die Kamera musste, wurde es meistens ziemlich unterhaltsam. Jonas davon abzuhalten, die Drehs zu crashen, war nämlich unmöglich.

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