NACH DEM ALBUM IST VOR DER ARBEIT

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*Annemarie*
Gegen 6 Uhr früh wurde ich durch ein leises Fluchen geweckt. Kurz war ich verwirrt. Wer war das? Ich drehte mich zu Wincent um, doch seine Bettseite war leer und kalt.
„Wince?", flüsterte ich leise. Doch es kam keine Antwort. Nach weiteren 10 Minuten warten, beschloss ich aufzustehen. Augenblicklich wurde mir flau im Margen. So früh war Wince noch nie wach. War etwas passiert und ich habe es nicht mitbekommen? Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf. Noch etwas verschlafen zog ich mir das erstbeste Shirt über den Kopf, das ich finden konnte. Kurz sog ich den mir allzu bekannten Duft ein. Sofort wurde ich etwas ruhiger. Gerade als ich das Schlafzimmer verlassen wollte, hörte ich erneutes Fluchen. Meine Gedanken fuhren weiterhin Achterbahn. Nirgendwo brannte Licht. Zuerst sah ich im Wohnzimmer nach meinen Freund, doch Fehlanzeige. Ein weiteres Geräusch. Was bitte ging hier vor sich? Was zur Hölle machte jemand so früh in meiner Wohnung? Ich flehte innerlich, dass es Wincents Fluchen war und dass es ihm gut ging.
Als ich in die Küche kam, schaltete ich als erstes das Licht an und zuckte kurz zusammen. Aber Wincent erschreckte sich mindestens genauso sehr.
"Ann!", sagte er und klang leicht überrascht.
"Wince. Was machst du hier?"
"Ähm..."
"Geht's dir gut?", fragte ich ihn, doch er antwortete mir nicht. Vorsichtig ging ich auf ihn zu. „Was ist los?", hakte ich vorsichtig nach.
„Ehrlich gesagt, keine Ahnung. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gefühlt."
„Kannst du das Gefühl beschreiben?"
„Seit 4 Uhr war ich auf einmal hellwach. An Schlaf ist seitdem nicht zu denken. Ich wollte dich eigentlich nicht wecken. Aber dann ist mir der Blumentopf von der Fensterbank gefallen. Sorry."
"Ist nicht so schlimm", erwiderte ich. "Hab eh keinen grünen Daumen. Willst du Kaffee?"
"Gerne. Ich hätte es auch selbst gemacht, aber ich verzweifle gerade noch mit der Technik", gab er zu. Wincent stand wie ein Häufchen Elend in meiner Küche. Kurzerhand zog ich ihn in eine feste Umarmung. Dankend nahm er diese an. Nach einer intensiven Umarmung, machte ich uns einen Kaffee.
„Wollen wir es uns auf dem Sofa bequem machen? Ich schätze nach dem Kaffee können wir erst recht nicht mehr schlafen."
Als Antwort bekam ich nur ein Nicken. Irgendwas stimmt nicht mit Wincent. So viel war klar. Auf dem Sofa angekommen, kuschelte ich mich an meinen Freund. Stumm lagen wir nebeneinander und schlürften an unserem Kaffee.
Wincent klopfte immer wieder auf sein Bein und so langsam machte mich sein Verhalten nervös.
„Schatz, kann es vielleicht sein, dass du aufgeregt bist?", fragte ich nach einiger Zeit. Mir ging sein Gehampel so langsam aber sicher auf die Nerven.
„Nein, warum?"
„So wie du gerade bist, kenne ich dich gar nicht. Du bist völlig hibbelig und neben der Spur." Wincent schien nachzudenken, aber eine Antwort bekam ich trotzdem nicht. Für mich stand jedoch fest: Er war nervös.
Die nächsten Stunden quatschten wir über belanglose Dinge. Franzi rief uns natürlich pünktlich an. Sie hatte wohl Angst, dass wir zu spät kamen. Wäre es jedoch nach meinem Freund gegangen, wären wir schon um acht Uhr da gewesen. Ich hoffte, dass es über Tag heute besser wurde.

*Wincent*
Endlich waren wir in der ersten Location angekommen. Hier sollte also unser erster Pop-Up Store entstehen. Vielleicht hatte Ann Recht und ich war nervös. Zumindest kribbelte es verdächtig in der Magengegend. Ich sprang vor Ann auf und ab. Hin und wieder verdrehte sie ihre Augen. Ich liebte diese Frau. Sie nahm mich hin wie ich war.
"Wince du nervst." Okay sie nahm mich gerade doch nicht so hin, wie ich war. Aber ich konnte ihr das nicht verübeln. "Ich mach doch gar nichts", probierte ich mich raus zu reden.
"Doch!", funkte Franzi dazwischen.
"Na so wirklich sinnvolles tust du ja nicht. Da gebe ich dir recht. Wenn du zu viel Energie hast, kannst du den LKW ausladen", kommentierte Amelie mein Verhalten. Ich gab mich geschlagen. Die Mädels lachten und hatten ab sofort Ruhe vor mir. Am Ende des Tages waren wir alle müde, aber happy. Es sah traumhaft aus. Ann und ich schlenderten durch den Store, während der Rest im Nachbarraum auf das bestellte Essen wartete.
"Es ist so schön geworden."
"Ja ich bin gespannt, was die Fans morgen sagen werden."
"Sie werden begeistert sein."
"Wincent? Ann kommt ihr, das Essen ist da."
Wir ließen den Tag mit dem Team gemütlich ausklingen. Der nächste Tag, sowie die nächsten Stops verflogen nur so. 
Es machte Spaß, in die vielen glücklichen Gesichter zu schauen. Heute stand Hamburg an. Letzter Stop der Tour und ich würde Ann wiedersehen. Sie wollte sich direkt nach der Arbeit in den Zug setzen und zu mir kommen. Ein Glück, dass man von Berlin recht schnell nach Hamburg kam.
"Mats, kannst du gleich deine Lieblingsmitbewohnerin vom Bahnhof abholen?", fragte ich ihn.
"Klar, aber meinst du nicht, dass die Leute mich nicht erkennen? Da werden bestimmt einige Fans sein."
"Ja, aber was spricht denn dagegen, wenn du deine Mitbewohnerin abholst."
"Hast Recht. Vermutlich bin ich unauffälliger als wenn du sie abholst."
"Danke."
Wenig später machte Mats sich auf dem Weg. Nicht mehr lange und ich konnte Ann wieder in die Arme schließen. Vielleicht nicht direkt. Das ging mit den Fans nicht. Aber ich sah sie. Das war die Hauptsache. Heute Abend würden wir ja eh wieder zusammen nach Berlin fahren. Schließlich standen die Proben für das The Voice Kids Finale an.
Ann und Mats betraten den Raum, mein Grinsen auf den nächsten Fotos verstärkte sich. Ann hielt sich geschickt im Hintergrund und begrüßte das Team nur mit einem kurzen Nicken.
Der nächste Slot war durch. Gerade als ich zu meiner Freundin gehen wollte, kam die nächste Truppe. Ich seufzte und guckte entschuldigend zu meiner Freundin.
"Alles gut", formte sie lautlos mit ihren Lippen.
"Ich liebe dich", flüsterte ich.
Im Augenwinkel sah ich, dass meine Freundin sich möglichst unauffällig in die Ecke stellte und so tat, als würde sie im Buch blättern.
"Ich hoffe jeder hat ein Foto bekommen und ich habe niemanden vergessen", redete ich locker drauf los.
"Ich glaube, das Mädchen da hinten in der Ecke hat noch kein Foto mit dir gemacht", sagte ein vielleicht 10-jähriger Junge.
Oh shit. Wie komm ich da nun wieder raus. Schnell Wincent überlege dir was. Annemarie sah mich erschrocken an. Sie legte das Buch zur Seite.
"Ähm ja. Klar." Alle Blicke lagen auf uns. Shit.
"Dann komm mal her. Für das Foto ist auch noch Zeit." Ich sah Ann an, dass sie nicht genau wusste, wie sie sich verhalten soll. Doch sie spielte mit. Sie gab Magdalena ihr Handy und umarmte mich. Ich musste mich konzentrieren, sie nicht inniger und länger zu umarmen als der Rest. Trotzdem genoss ich die Umarmung. Schließlich hatten wir uns jetzt ein paar Tage nicht gesehen.
"Schön dich zu sehen", flüsterte ich leise in ihr Ohr.
Wir positionierten uns für das Foto. Ann schmiegte sich eng an mich. So unauffällig wie möglich, zog ich sie dicht an mich ran. Magdalena machte ein paar Fotos. Wir lösten uns voneinander. Ann nahm ihr Handy wieder und ging in Richtung des Merch-Standes. Die restlichen Durchläufe liefen ohne Zwischenfälle ab. Ann hielt sich an Mats oder Amelie. So sah es aus, als würde sie zum Team gehören. Tat sie ja auch. Die letzte Truppe war durch. Endlich. Als die letzten Fans raus waren, ging ich schnellen Schrittes zu Ann.
"Hey mein Schatz. Danke fürs mitspielen."
"Hey. Gerne. Auch wenn ich kurz überlegt hatte, raus zu stürmen. Aber das wäre noch auffälliger gewesen."
Lachend nahm ich sie in meine Arme.
"Essen und nach Hause?", fragte ich sie. 

*Annemarie*
Wincent war heute wieder früh wach, aber dieses Mal weckte er mich beim Aufstehen mit. Es war sicherlich nicht seine Absicht, ersparte mir aber einiges an Stress. Ich wusste, dass ihn dieses Mal die Vorfreude geweckt hatte. Immerhin begannen die Proben für das Finale von The Voice Kids und natürlich war Wincent ehrgeizig wie eh und je. Er liebte die Arbeit mit den Kindern beziehungsweise Teenagern.
Während Wincent mich halb in den Wahnsinn trieb, weil er so aufgeregt war, versuchte ich mich ein wenig von seiner Begeisterung anstecken zu lassen. Für mich hieß es nämlich wieder: Ab ins Büro. Und ich hatte so absolut keinen Bock drauf.
"Guten Morgen, mein Schatz", begrüßte mich Wincent und gab mir einen Kuss.
"Guten Morgen", antwortete ich und nahm dankbar die Kaffeetasse entgegen.
"Was steht bei dir heute so an?", fragte er, während wir gemeinsam frühstückten.
"Arbeit, Arbeit und... Arbeit", antwortete ich und klang genauso motiviert, wie ich mich fühlte.
"Hast du mal über Kündigung nachgedacht?", fragte Wincent und sah mich aufmerksam an. Natürlich wusste er, dass ich in meinem Job absolut nicht mehr glücklich war.
"Ja, aber ich kann das nicht."
Wincent beließ es zum Glück für heute dabei, was vielleicht am Klingeln seines Handys lag. Er stand auf und suchte in der Wohnung danach.
Ich widmete mich weiterhin meinem Frühstück und versuchte nicht zu sehr an den Stress zu denken, der mich vermutlich im Büro erwartete.
Wince schien mit seiner Mutter zu telefonieren.
Bei meiner sollte ich mich vielleicht auch mal wieder melden, dachte ich. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich langsam mal losfahren sollte. Seit dem Vorfall in der U-Bahn fuhr ich nur noch mit dem Auto zur Arbeit. Und der Berliner Stadtverkehr war nicht gerade berauschend. Vorsichtig schmiegte ich mich an meinen Freund. Ich wollte ihn nicht stören, aber ohne mich zu verabschieden, wollte ich auch nicht die Wohnung verlassen.
"Mum, ich stelle dich kurz mal auf laut. Ann ist neben mir."
"Hey Ann, wie geht's dir?", fragte Angela direkt.
"Hey Angela, mir geht es ganz gut. Ich will auch gar nicht lange stören. Ich klau mir nur schnell einen Abschiedskuss von deinem Sohn. Ich muss leider los zur Arbeit."
"Freut mich zu hören. Ich will auch gar nicht länger stören. Wince du meldest dich nochmal wegen Hamburg? Vielleicht können wir da alle zusammen hin."
Kurz sprachen Angela und Wince noch miteinander. Ich sah auf die Uhr. Wenn ich nicht zu spät kommen wollte, musste ich echt los, doch Wince hielt mich fest.
"Schatz, ich muss los", flüsterte ich.
Stumm formte er ein "Warte." Ich seufzte. Er und seine Gelassenheit. Schließlich beendete er das Telefonat. Kommentarlos zog er mich in seine Arme. Ich kuschelte mich an seine Brust. Kurz vergaß ich, dass ich wirklich los musste. Schließlich löste ich mich aus der Umarmung.
"Ich wünsche dir heute viel Spaß."
"Danke, pass auf dich auf." Wincent küsste mich zärtlich. Ich ging in den Flur und zog meine Schuhe an, schnappte mir meinen Autoschlüssel und meine Handtasche.
Gerade als ich die Tür aufschließen wollte, kam Wincent in den Flur und zog sich hastig seine Schuhe an.
"Musst du auch schon los?", fragte ich ihn.
"Nein, ich dachte, ich bringe dich. Dann haben wir noch die Zeit zusammen."
"Du spinnst doch. Du musst in eine ganz andere Richtung als ich. Und nach Hause kommen muss ich auch irgendwie."
"Hör auf mit deinem Lieblingsspinner zu diskutieren. Ich fahre dich und ich hole dich auch wieder ab." Damit war unsere kleine Diskussion beendet.
Ich liebte die kleinen Sticheleien, aber das würde ich Wince nie verraten. Hand in Hand gingen wir die Treppen hinunter. Vorsichtig streichelte Wince immer wieder über meinen Handrücken. Ich lächelte ihn an.
"Danke, dass du mich fährst. Irgendwie fühlt es sich an, als würden wir zur gleichen Arbeit fahren", sagte ich etwas wehmütig.
"Wenn du kündigst, könnte das vielleicht in Zukunft Realität werden." Schon wieder dieses Thema.
"Schatz, ich weiß du meinst es gut. Aber können wir bitte dieses Thema sein lassen? Vermutlich werde ich irgendwann kündigen. Aber momentan bin ich noch nicht bereit dazu." Damit war dann auch dieses Thema vom Tisch.
Die Fahrt ins Büro kam mir total kurzweilig vor. Ich gab Wince die Parkkarte, er hielt sie vor der Schrankenanlage und wir fuhren auf dem Parkplatz.
"Wann machst du Feierabend? Dann bin ich hier."
"Nie", lachte ich. "Passt dir so gegen 18 Uhr? Oder bist du da noch mit den Kids aktiv?"
"Nein das passt. Das bekomme ich hin."
Zu meiner Verwunderung stieg Wince mit aus. Er lehnte sich an sein Auto.
"Was wird das?"
"Ich will meiner Freundin noch einen richtigen Kuss geben."
"Da sage ich doch nicht nein."  Jede Verzögerung war mir Recht. 
Wince zog mich zu sich ran. Seine Hände ruhten auf meiner Taille. Ich stellte meine Tasche auf den Boden. Automatisch legten sich meine Arme auf seinen Schultern. Sachte zog ich ihn zu mir runter. Auch wenn ich nicht viel kleiner war, hatte ich gerade keine Lust, mich auf die Zehenspitzen zu stellen. Ich schloss meine Augen. Das nächste, was ich spürte, waren seine zarten Lippen auf meinen. Ich lehnte mich gegen ihn. So standen wir beide da. Mitten auf dem Parkplatz vor meinem Büro. Ein Räuspern ließ uns den Kuss beenden.
"Annemarie, du bist hier bei der Arbeit."
"Guten Morgen, Sven. Darf ich dir meinen Freund vorstellen?", probierte ich die peinliche Situation zu retten.
"Hey, ich bin Wincent", begrüßte Wincent meinen Chef. Kurz unterhielten sich die beiden. Wincent hielt mich immer noch in seinem Arm. Er gab mir Sicherheit.
"Annemarie, kommst du mit hoch? Ich habe etwas mit dir zu besprechen."
"Ja ich komme."
Wince hob mir meine Handtasche auf und hauchte mir einen Kuss auf meine Stirn.  Ich liebte die Geeste.
"Ich liebe dich. Und lass dich nicht unterkriegen. Schreib später, was er wollte", flüsterte er mir ins Ohr.
"Ich liebe dich auch. Mach ich. Danke fürs Fahren."

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