Die Wahrheit

145 8 0
                                    

*Annemarie*
Scheiße, scheiße, scheiße. Meine gesamte Unterhose war voll Blut. Fuuuuck. Was mache ich jetzt nur? In mir stieg Panik auf. Geistesgegenwärtig schloss ich wieder die Tür auf und setzte mich erneut auf die Toilette. Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut. Im Wohnzimmer hörte ich Kevin mit Louis diskutieren. Ich musste schmunzeln, jedoch durchzog mir ein Schmerz durch meinen Unterleib. Ich unterdrückte einen Aufschrei. „Wincent", wimmerte ich. Aber es war klar, dass er mich nicht hören konnte.
„Wincent? Schatz?", wiederholte ich meinen Ruf nach meinem Freund. Es wurde unruhig im Wohnzimmer. Hat er mich gehört?
„Babe? Was ist...", sprach er, als er die Tür reinkam. Er war blass. So kannte ich ihn gar nicht.
„Es ist passiert. Und ich habe es nicht einmal gemerkt." Ich musste weinen. Es gab keine richtigen Worte für all das. Wir hatten unser Kind verloren. Ich hatte Wincents Kind verloren. Wegen mir wird er kein Papa. Ich war schuld. Es kann nur meine Schuld sein.
„Ann..."
"Wincent...Wincent es tut mir leid. Ich bin schuld, dass du nicht Vater werden kannst. Bitte hass mich nicht."
"Babe, was redest du da. Wir stehen das zusammen durch. Es gibt noch so viele Chancen. Wir sind jung."

*Wincent*
Mein Herz zerbrach in tausend Teile. Nun war es endgültig unser Kind, hat sich auf dem Weg gemacht. Ann saß weinend auf der Toilette. Ihre Unterhose war voller Blut und auch war etwas auf dem Fußboden gekommen. Ich zog Ann an meine Brust. Der Abstand, den wir gerade noch hatten, hielt ich nicht länger aus. Es war mir egal, was wir damit noch dreckig machen würden. Nichts was man nicht wieder sauber machen könnte. Ann klammerte sich an mich fest. So fest es ging drückte ich sie gegen mich.
"Ich will nach Hause", schniefte Ann nach einiger Zeit.
"Ich auch. Komm, ich helfe dir."
Ich ließ meine Freundin los und küsste sie zärtlich auf ihre Wange. Ann machte sich soweit es ging sauber. Kurz entschlossen fing ich schonmal mit dem Boden an.
"Was tust du da? Du musst doch nicht mein Blut wegwischen. Das ist doch für dich eklig."
"Nein Schatz, alles gut. Wirklich."
"Lass mich das machen", versuchte es Ann.
Ich seufzte. „Babe, auch wenn wir noch nicht verheiratet sind. Wir beide, gehen zusammen durch dick und dünn. Zusammen durch die guten Zeiten und zusammen durch die schlechten Zeiten. Zusammen schaffen wir das schon." Schnell wischte ich die letzten Blutstropfen weg und anschließend gingen wir zusammen zurück zu Lisa und Kevin ins Wohnzimmer. Beide sahen uns fragend, aber auch zugleich mitfühlend an.
"Ja, es ist leider passiert." War meine einzige Antwort, die ich raus bekam. Kevin und Lisa standen auf und nahmen uns beide fest in den Arm. Als Kevin mich fest drückte, begriff ich erst, was gerade geschehen war. Als würde mein Kopf jetzt erst realisieren, was das bedeutete. Tränen schossen in meine Augen und ich konnte diese nicht länger zurückhalten.
"Geht nach Hause und redet darüber. Ihr müsst es beide erstmal begreifen und verarbeiten."
Ich nickte. Ann stand zwischen mir und Lisa.
"Komm Schatz. Wir fahren nach Hause." Ann nickte und verabschiedete sich von Kevins Frau. Ich sah, wie die beiden Frauen sich lange umarmten. Kevin zog mich ein Stück zur Seite und sah mich ernst an.
„Wincent, erinnere dich an meine Worte von gestern. Du darfst dich jetzt nicht verkriechen. Redet darüber. Seid füreinander da. Ann wird weiterhin Schmerzen haben und ich rede nicht nur von den Schmerzen im Unterleib."
"Mach ich nicht Kevin, versprochen." Ich nickte. Klar bin ich für Ann da. Wir schaffen das schon. Ann kam zu uns in den Flur.
"Und falls etwas sein sollte, ruf mich an. Wir sind für euch da."
"Danke."
"Falls wir nichts mehr von dir hören, sehen wir uns morgen."
"Bis morgen", sagten Ann und ich im Chor. Die Tür fiel ins Schloss.
Ich atmete die kühle Nachtluft ein. Für Juni war es ungewöhnlich kühl, aber die frische Luft tat gut.

*Annemarie*
Die Fahrt guckte ich aus dem Fenster. Keiner von uns sagte etwas. Nicht einmal das Radio lief. Wincent hatte es direkt ausgeschaltet, als der Motor startete. Meine Hand ruhte immer noch auf meinem Bauch. Die Krämpfe hatten etwas nachgelassen. Wincent streichelte hin und wieder meinen Oberschenkel.
Zuhause angekommen, lief ich an Wincent vorbei und ging direkt ins Bad. Wincent kam mir hinterher. Doch seine Nähe, sein trauriger Blick und seine Hilflosigkeit in seinen Augen waren mir gerade zu viel. Ich konnte das nicht. Denn für all seine Gefühle war ich Schuld. Ich allein. Das würde immer zwischen uns stehen. Ich wusste es einfach.
"Ich gehe duschen", sagte ich zu Wincent.
"Soll ich mitkommen? Brauchst du irgendetwas?"
"Nein. Ich brauche glaube ich gerade etwas Ruhe." Damit verschwand ich endgültig ins Bad.
Zum ersten Mal schloss ich die Tür ab. Keine Ahnung warum, das machte ich sonst nur in meiner WG mit Mats. Hätte das mit dem Kind überhaupt funktioniert? Oder ist das jetzt nicht sogar vielleicht besser? Schließlich wohnte ich mit Mats zusammen und nicht mit Wincent. Wollte Wincent überhaupt irgendwann seine Wohnung hier in München aufgeben? Wie ist das in der Zukunft? Werde ich immer irgendwo alleine Leben und Wincent würde mich nur besuchen kommen. Je nachdem, wo er gerade ist? Warum bringt nur ein Menschenkind so viel durcheinander? Wir waren doch gerade glücklich, so wie es gerade war. Und jetzt mache ich mir vermutlich viel zu viele Gedanken. Wincent liebt mich und ich ihn. Wir beide schaffen das schon. Irgendwie. Irgendwann.
Die Dusche tat gut. Das warme Wasser ließ mich für einen kurzen Moment alles um mich herum vergessen. Ich sah nicht hin, als ich das Blut ab wusch. Ich wollte es nicht sehen. Auch meine Unterhose schmiss ich direkt in den Müll, als ich mit dem Duschen fertig war. Wincent saß im Wohnzimmer, 2 leere Bierflaschen auf dem Tisch und eine Bierflasche in der Hand. Als er mich sah, öffnete er kurz den Mund. Ich dachte, er würde etwas sagen. Doch es kam nichts. Da ich selber nicht wusste, was ich sagen sollte, entschloss ich mich, schlafen zu gehen. Ich hörte, wie Wincent kurze Zeit später aufstand. Kurz hatte ich die Hoffnung, dass er zu mir ins Bett kommt. Jedoch hörte ich, wie er sich nur ein weiteres Bier holte. Auch eine Art zu vergessen, dachte ich. Als ich das letzte mal auf die Uhr sah, war es 23 Uhr und von Wincent noch keine Spur zu sehen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und 2 starke Arme umarmten mich. Wann kam er denn ins Bett? Ich drehte mich zu ihm und kuschelte mich an seine Brust. 
"Guten Morgen", brummte er.
"Guten Morgen"
"Wie spät ist es?"
Ich sah auf meine Uhr und erschrak. "Gleich 14 Uhr."
"Shit in knapp einer Stunde muss ich beim Soundcheck sein." Wincent sprang auf. Als mein Freund aufgestanden war, sah ich, was während der Nacht passiert war. Ich war wortwörtlich ausgelaufen. Das gesamte Bett war mehr oder weniger  voller Blut. Wincent, der schon so gut wie auf dem Weg ins Badezimmer war, erstarrte.
Mir war das peinlich und unangenehm.
"Ich mach das schon, geh du dich mal fertig machen!", sagte ich vielleicht ein klein wenig zu forsch. Ich wollte nicht, dass Wincent mir wieder half. Mir war das gestern schon bei Kevin im Bad ziemlich unangenehm.

Wir sind mittendrin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt