Emotionen

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Möglichkeits-Räume:

Emotionen sind physiologische Zustände, Körper-Zustände. Sie haben die Funktion, den Raum möglicher Handlungen in eine Richtung zu öffnen und in andere Richtungen zu schließen. Denn das Nervensystem hat prinzipiell unendlich viele Handlungs-Möglichkeiten, kann aber zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur eine begrenzte Anzahl von Handlungs-Impulsen umsetzen. Darum treffen die Emotionen quasi eine Vorauswahl an Handlungen die ermöglicht werden und solchen, die eher verhindert werden. (Daniel Siegel: Wie wir werden, die wir sind.)

Emotionen entstehen als Antwort auf innere und äußere Situationen. Sie fokussieren den Raum möglicher Handlungen auf das, was in der gegebenen Situation angemessen erscheint. Das Nervensystem veranlasst die Ausschüttung von Hormonen, die Veränderung von Körperspannung und Durchblutung. Auf diese Weise sind manche Handlungen wahrscheinlicher und wahrscheinlich auch erfolgreicher - beispielsweise Kampf oder Flucht, wenn der Adrenalin-Spiegel, die Muskel-Spannung und die Durchblutung der Muskeln erhöht sind. Andere sind weniger wahrscheinlich und erfolgreich, zum Beispiel Denken, wenn das Hirn schlecht durchblutet ist und der Körper unter Stress steht.

Körper-Schleife:

Das Nervensystem veranlasst all diese Veränderungen und wenn sie eingetreten sind, nimmt es sie wahr und interpretiert sie als bewusste Gefühle. Antonio Damasio nennt das in seinem Buch 'Ich fühle, also bin ich' Körper-Schleife. Das Gehirn benutzt den Körper, um sich seiner selbst bewusst zu werden.

Als ich Damasio damals auf meiner Entdeckungsreise in die Welt der Neuro-Wissenschaften gelesen habe, konnte ich diesen Mechanismus zwar intellektuell verstehen, aber nicht wirklich nachvollziehen. Mein Denkfehler damals war, dass ich das Nervensystem gesehen habe wie eine Person. Aber das ist es nicht. Es ist ein komplexes, selbst organisierendes System aus vernetzten Zellen mit verteilten Aufgaben.

Eine Gruppe von Zellen scannt einen bestimmten Ausschnitt der inneren oder äußeren Wirklichkeit auf bestimmte Ereignisse hin und bewertet diese anhand riesiger Archive zuvor aufgezeichneter Daten. Tritt ein Ereignis ein, dem diese Zellen gemäß der ihnen bekannten Vorgeschichte eine besondere Bedeutung zusprechen, veranlassen sie physiologische Veränderungen, die den Körper auf angemessene Handlungen vorbereiten.

Andere Zellen scannen kontinuierlich den Körper auf markante Veränderungen und interpretieren diese schließlich im Datenabgleich mit früherer Erfahrungen. Das Nervensystem ist ein lernendes, selbst organisierendes System, das viele innere und äußere Reize ohne entsprechende Vorerfahrung nicht angemessen erkennen, interpretieren und darauf adäquat reagieren kann. Mir ist kaum eine Funktion bekannt, die nicht erlernt ist. Ob Gehen, Stehen, Sitzen; Lesen, Schreiben, Rechnen; Sehen, Hören, das Gleichgewicht halten oder die Position des Körpers im Raum erkennen. Nur die vegetativen Funktionen wie Schlafen, Atmen und Verdauen beruhen weniger auf Lernprozessen.

Erlernen des Lebens:

So können Kinder, wenn sie geboren werden, anfangs trotz intakter Augen kaum sehen. Sie müssen erst Monate lang visuelle Eindrücke mit haptischen Eindrücken und räumlichen Erfahrungen verbinden, um allmählich die Kunst des Sehens zu erwerben.

(Wie das funktioniert, wird anschaulich beschrieben von Daniel Stern in seinem 'Tagebuch eines Babys'. Wie junge Katzen - und im Grunde auch Menschen - das räumliche Sehen erlernen, erfährt man im Spektrum 'Reiseführer Gehirn'. Wie der vernetzte Aufbau der menschlichen Sinne funktioniert, behandelt Jeane Ayres in 'Bausteine der kindlichen Entwicklung'. Mit der Bewegungs- und Handlungs-Entwicklung beschäftigt sich Emmy Pikler, unter anderem in 'Friedliche Babys - zufriedene Mütter' und 'Lass mir Zeit'. Die Bedeutung früher Reflexe und ihrer Integration behandelt 'Greifen und Begreifen' von S Goddard Blythe und die Entwicklung im Mutterleib Hüther /Krens in 'Das Geheimnis der ersten neun Monate'.)

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