Mich vor der Asche meiner Kameraden verneigen

23 1 0
                                    

Der Vortrag:

Als ich noch in kontinuierlichen großen Kursen unterrichtete, gab es ein Institut, das von seinen Freelance Mitarbeitern zusätzliche Vorträge über diverse Themen erwartete. Ich wählte Dachau, denn ich dachte, damit kenne ich mich aus. Ich ahnte nicht, was ich mir und meinen Schülern da antue.

Vergessen meine Hilflosigkeit angesichts der Erzählungen des Zeugen Jehova. Noch weiter weg die verstreuten, merkwürdigen Andeutungen meines Vaters. Ich dachte nur daran, dass ich bei einem exzellenten Geschichts-Lehrer meinen Geschichte-Grundkurs absolviert hatte, inklusive einem ausführlichen Kapitel über das NS-Regime. Dazu gehörten auch Dachau und Co. Ich hatte dann auch noch freiwillig die entsprechende Unterrichts-Sequenz im Leistungskurs besucht, bei einem Lehrer, der, wie ich heute weiß, wohl eine regelrechte lokale Koryphäe war. Also fühlte ich mich bestens gewappnet, dachte, ich geh da mal hin, mach ne Führung mit und erzähl anschließend meinen Schülern davon.

Dachau:

Ich fuhr da hin und stellte fest, dass ich keine Ahnung hatte. Nichts. Ich hatte in meiner Studienzeit Auschwitz besucht und von daher eine vage Vorstellung davon, was dort los war. Doch Dachau war anders. Auschwitz war ein Vernichtungslager - eine relativ späte Entwicklung. Dachau war genuin ein Konzentrationslager, genauer das erste offizielle Konzentrationslager in Deutschland. Es war die Machtbasis, das Karriere-Sprungbrett und Experimentierfeld für Himmler und Heydrich, die in München geblieben waren, abgehängt von der Partei-Elite und nun einen Weg finden mussten, der nach Berlin führt. Da kam die Kontrolle über die Polizei sehr gelegen.

Wilde Konzentrationslager, teils von SA, teilweise von der SS, gab es sehr schnell quasi überall. Aber Himmler mit der Polizeigewalt in der Hand, zeigte, wie man das methodisch und systematisch angeht, wie man mit einem verrückten Psychopathen als Leiter und fanatisch gehorsamen, gewaltbereiten Partei-Soldaten als Untergebene einen rechtsfreien Raum schafft, wo alles geschehen kann. Das Erfolgs-Modell setzte sich durch. (Der Historiker Timothy Snyder spricht in seinem Holocaust-Buch 'Black Earth' und den entsprechenden Vorträgen davon, wie wichtig rechtsfreie Räume oder der Zusammenbruch von staatlicher Ordnung für die Entwicklung von Pogromen und Gewaltexzessen ist.)

Ohne Dachau und die dortige schrittweise Ausgestaltung von Konzepten und Strukturen wäre Auschwitz nicht möglich gewesen. Aber Dachau von Auschwitz her zu denken, führte in die Irre.

Kultur der Gewalt:

Wie ging ich damals damit um?  Ich sprach in meinem Vortrag über ein Thema, das jeden vernünftigen Menschen auf dieser Welt angehen sollte: die Entwicklung einer Kultur der Gewalt und des Schreckens - gut belegt mit Aussagen von Fachleuten, Betroffenen und Zeugen aus Dachau und aller Welt, so zum Beispiel auch aus den Lagern für angebliche Kommunisten in Argentinien.

Es war mir nicht bewusst. Aber mit diesem Thema kannte ich mich aus. Die Schüler verließen meinen Vortrag kreidebleich. Und glücklicherweise für uns alle musste ich keine weiteren Vorträge mehr halten.

Wallfahrt:

Ich hätte das alles getrost abhaken und zum Standard-Programm übergehen können. Stattdessen begann mit dieser Episode eine lange Pilgerreise, die zuerst dem Zeugnis der Überlebenden galt und dann den Erkenntnissen der Wissenschaft über Alltag, Institutionen und Mechanismen des Terrors.

Notwehr:

Es war Notwehr. Ich hatte das Bedürfnis, ungeordnete Gefühle durch klare Fakten zu ersetzen, wollte wissen, wer mein Vater wirklich war, was er getan hatte, wollte wissen, wo ich selbst stehe. Was anfangs eine Last war und für Entsetzen gesorgt hatte, wurde später zum Segen. Später ist es mir gelungen, Schüler aus unterschiedlichen europäischen Ländern für ein lustvolles Entdecken von Sprache und Kultur zu gewinnen, den Schrecken der Vergangenheit zum Trotz.

Die Fülle des Lebens Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt