Hier beginnt: Die Hinreise
In ferner Zeit, als ich als Studentin im Musiker-Wohnheim wohnte, ohne wirklich Musikerin zu sein - Ich studierte nur Musikwissenschaft - im Nebenfach!, zog ein Iraner bei uns ein, der anderswo keinen Wohnheim-Platz gefunden hatte. Er war aufgeschlossen, unkompliziert und sein morgendlicher Gesang unter der Dusche war Ereignis. Ein Musiker gestand mir einmal seufzend seinen Neid. Ich konnte ihn nur zu gut verstehen. Auch ich hatte Jahre in Chören und einige Zeit mit Gesangsübungen verbracht.
Unser Neuer wollte Medizin studieren, möglichst bald. Die Deutschkurse an der Uni, die er zuerst absolvieren musste, dauerten ewig. Er suchte nach einer Abkürzung. Und bei mir war er da an der richtigen Adresse. Mein Hauptfach war Germanistik. Ich hatte gerade eine maximale Abkürzung zum großen Latinum gefunden und war - anders als die Musiker, die viele Stunden am Tag mit Üben verbrachten, oft zu Hause. Wir fanden gemeinsam einen Weg, wie er die Sprache im Eiltempo lernen, einen langweiligen Kurs nach dem anderen überspringen und recht bald die erforderlichen Prüfungen bestehen konnte.
Das Lebensgefühl dieses Menschen berührte und erschütterte mich. Es drang durch alle Poren in mein Leben ein. Befremdet stellte ich fest, wie wenig ich in mir selbst, in meinem Körper, meinen Gefühlen, in meinem Leben zu Hause war. Mit Sehnsucht betrachtete ich meinen Nachbarn, der in jedem Augenblick anwesend und er selbst zu sein schien. Ich hatte keinen Namen für das, was ich wahrnahm. Jedes Wort, jeder Begriff schien blass und unbrauchbar, um die Gefühle und Bilder zu beschreiben, die sich in mir einstellten, wenn ich an meinen Nachbarn und seine Freunde dachte. Es war meine erste Begegnung mit absoluter Lebendigkeit und Anwesenheit, mit dem Zustand also, für den wir Menschen geschaffen sind. Alles Andere ist Elend, ist Exil.
Ich lernte Nowrouz kennen und traditionelle persische Musik, die klassischen Instrumente und Gesänge, zu denen mein Nachbar selig mit allen zehn Fingern auf irgendeiner Oberfläche trommelte. Er war nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch in der Vergangenheit seines Volkes, seiner Kultur vollständig zu Hause. Ich dagegen lebte im Elend, im Exil. Die Geschichte meiner Familie war schwierig und voller Minen und Tabus, die Geschichte meines Volkes voller Verwirrung, Scheitern und Verbrechen, unsere Kultur oder was sich so nannte, berührte mich nicht oder engte mich ein.
War Iran damals eine Insel der Seligen, die perfekte Menschen hervor brachte? Natürlich nicht. Eines Tages fand ich meinen Nachbarn traurig in der Küche. Er hatte Berichte über Folterungen in iranischen Gefängnissen dabei, erzählte mir von Foltermethoden und Schrecken seiner Heimat. Ich hörte zu und hielt mit ihm aus. Worte des Trostes wären unangebracht gewesen.
Im Anschluss an dieses Erlebnis fing ich an zu verstehen: Dieser Mensch ist so lebendig, weil er vollständig ist, weil er Schmerz und Freude gleichermaßen bewohnt. Die Verbindung zu den Menschen in seiner Heimat ist vollständig. Die Verbindung zu den Menschen, die ihn umgeben, auch. Er bewohnt die gesamte Vergangenheit, die ganze Bandbreite seiner Emotionen, jeden Augenblick und jede Beziehung komplett. Diese letzte Erkenntnis machte mir Mut, denn sie bedeutete, dass auch ich mein Leben bewohnen kann, auch wenn es nicht perfekt, nicht immer glücklich, von Verwirrung und Dunkelheit umstellt und zuweilen schwer zu handhaben ist.
Mein Nachbar hat später ein Harvard-Stipendium erhalten, eine Frau aus seinem iranischen Freundeskreis zur Partnerin gewählt und unser Wohnheim verlassen. Ich bin ihm dann noch einmal begegnet - kurz. Es gab nicht viel zu sagen. Freude über seinen Erfolg, gute Wünsche. Unsere gemeinsamen Stunden waren für ihn eine Episode am Rande in einem voll gepackten Leben. In meinem Leben waren seine Spuren unauslöschlich. Sie sind ein Grund dafür, dass ich bin.
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Die Fülle des Lebens
Non-FictionEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...