Unvermutet:
Der zweite Überlebende war zunächst für mich keine eindrucksvolle Gestalt, eher still, schlicht und vielleicht ein wenig altmodisch. Doch er hat mich tief beeindruckt.
Es war eine israelische Gruppe, die Deutschland besuchte und einen kleinen Abstecher nach Frankreich machte. Meine Aufgabe war es, die möglichst reibungslose Umsetzung eines von anderen ausgearbeiteten Reiseplanes sicher zu stellen, mit der Gruppe und den übrigen Akteuren zu kommunizieren, die Gruppe zu begleiten und für ihr Wohlbefinden zu sorgen.
Verwirrung:
Der Leiter der Gruppe war ein feiner älterer Herr, der als junger Mensch mit seinen Eltern das Land noch rechtzeitig verlassen hatte und so dem Holocaust entkommen war. Er sprach mit mir Deutsch, fühlte sich dem Land verbunden, was mich irritierte. Ich hatte Schuldgefühle, hätte jede Ablehnung, Übellaunigkeit oder Gereiztheit seinerseits wohl bestens verstanden und klaglos hingenommen, obwohl ich unschuldig war. Aber seine Generosität traf mich ins Herz.
Synagoge:
Viele Jahre zuvor war ich mit meiner Mutter in unserer Heimatstadt unterwegs. Gewöhnlich hatten wir unsere festen Wege. Doch diesmal bog sie ab und führte mich 1, 2 Straßen weiter zu dem unscheinbaren Rest einer Mauer. Dort erklärte sie mir: "Hier stand einst die Synagoge." Ich weiß nicht mehr, was sie sonst noch sagte. Ich glaube, es war eventuell: "Sie wurde 1938 zerstört."
Ich war so erstaunt, dass ich nicht fragen konnte, was es eigentlich zu fragen gab. Und sie hat sich nie wieder zu diesem Thema geäußert.
Das Wort 'Synagoge' kannte ich ausschließlich aus Bibel, Gottesdienst und Religionsunterricht. Die Geschichten der Bibel waren 2000 Jahre alt und stammten aus einem in meiner damaligen Vorstellung unglaublich fernen Land. Wann und wie waren die Menschen, die sich in der Synagoge versammelten, in meine Heimatstadt gelangt? Was haben sie da gemacht? Und warum sind sie plötzlich verschwunden?
Da ich mir nicht zu helfen wusste, fragte ich meinen Religionslehrer. Ich habe nicht mehr im Kopf, was er mir geantwortet hat, nur seine Verlegenheit. Heute frage ich mich: "War es ihm peinlich, dass ich ihn zwang, über ein derart unappetitliches Kapitel unserer Geschichte zu reden? Oder war es peinlich, dass ich, die ich sonst vieles schneller und gründlicher begriff als andere, eine derart uninformierte Frage stellen konnte?
Da ich mich an den Lehrer erinnere, weiß ich, dass sich die Szene in den ersten drei Jahren am Gymnasium ereignet haben muss. Ich rechne nach. Hat sie mich genau in jenem Alter mit der Vergangenheit konfrontiert, in dem sie einst die Zerstörung der Synagoge erlebte?
Später hab ich ziemlich viel über das plötzliche Verschwinden der Menschen und das Spektakel der brennenden Synagogen erfahren. Und ich stürzte mich auf das neue Wissen wie ein ausgehungertes Tier.
Fremde:
Das neue Wissen kam mit Bildern einher, wo die Menschen fern, fremd, heruntergekommen und verletzlich aussahen. Und Sendungen, die versuchten, über jüdischen Glauben und spezifische Traditionen zu informieren, erzeugten noch mehr das Gefühl von Ferne und Fremde.
Hatten 2000 Jahre lang Fremde unter uns gelebt und waren dann wie in einer obszön gewalttätigen allergischen Reaktion plötzlich von meinen Vorfahren verschwunden worden? Mein Instinkt sagte mir: "Nein. Das waren keine Fremden. Es waren Freunde, Nachbarn, Kollegen. Heute würde ich hinzufügen: Verwandte. Die Umstände und der fremde Blick, der auf sie fiel, ließen sie fremd erscheinen.
(Was ich meine, bringt am besten der Film 'Der Pianist' zum Ausdruck, der das Leben eines berühmten Überlebenden von der Zeit davor bis zur Zeit danach nachzeichnet.)
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Die Fülle des Lebens
No FicciónEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...