Geplanter Massenmord:Am 7. Oktober 2023, dem Geburtstag von Wladimir Putin, überquerten Tausende Hamas-Kämpfer die normalerweise gut gesicherte Grenze zwischen Gazastreifen und Israel und begannen, weitgehend ungehindert und systematisch israelische Zivilisten abzuschlachten. Es dauerte ewig, bis die israelische Armee den Betroffenen zu Hilfe 'eilte'. Für viele Menschen kam die Rettung zu spät.
Die staatliche Ordnung, das staatliche Gewaltmonopol waren laut Zeugnis von Augenzeugen nicht nur für Stunden, sondern teilweise für Tage aufgehoben. Eine Aufarbeitung dieses Totalausfalls hat bis heute nicht stattgefunden. Stattdessen führt man Krieg gegen die Hamas und legt dabei den Gazastreifen in Schutt und Asche, zerstört die Lebensgrundlagen und das Leben der Menschen.
Zivilisten - überwiegend Frauen und Kinder - hungern, werden erschossen, von Bomben und Granaten zerfetzt, lebendig verbrannt. Es gibt keine Sicherheit, keine Versorgung, nur Trauma, Vertreibung und Terror. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass man auf diese Weise nicht weniger Terror bekommt, sondern mehr. Laut einer Analyse, die mir neulich begegnet ist, sind 60 Prozent der heutigen Kämpfer die verwaisten Kinder von Eltern, die bei früheren israelischen Angriffen getötet wurden.
Obwohl ich gut 2, 3 Jahre zuvor zu dem Schluss gekommen war, dass die damalige Konstellation von Israel und Gaza allein, wenn sie nicht so schnell wie möglich aufgelöst wird, auf Dauer die Existenz Israels in Frage stellt, möglicherweise sogar akut bedroht, hab ich mit dieser Katastrophe genauso wenig gerechnet wie alle anderen. Ich glaubte gleich den anderen, dass der legendäre israelische Geheimdienst und die Armee die prekäre Grenze zu Gaza optimal bewacht. Das war nicht der Fall.
Reaktionen:
Die Reaktionen der israelischen Regierung und der Weltöffentlichkeit haben anders als die Schrecken des 7. Oktobers nicht wirklich überrascht. Doch sind sie deshalb rational und angemessen?
Die amerikanische Regierung, genau wie die deutsche haben anschließend formelhaft das Selbstverteidigungs- Recht Israels betont und es der Regierung dort überlassen, wie sie dieses Recht interpretiert. Bedenken kamen zaghaft und spät.
Aber halt mal: Das geht uns alle an. Denn wenn im Nahen Osten etwas schief geht, bekommen wir das alle zu spüren.
Es ist nicht egal, wie Israel sein Selbstverteidigungs-Recht ausübt. Es ist nicht egal, wie die Rolle von Gaza, der Hamas und der Zivilbevölkerung dort definiert werden. Es ist nicht egal, welche Rolle Israel spielt. Und es ist nicht egal, was nationales und internationales Recht zu sagen haben.
Ausgangslage:
Israel hat vor 2005 sowohl Zivilisten als auch Militär aus dem Gazastreifen zurück gezogen. Aber es hat die volle Kontrolle über die Grenzen, das Wasser, die wirtschaftliche Entwicklung, die Versorgung der Bevölkerung und die Arbeitsmöglichkeiten der Menschen dort. Das heißt, die Besatzung besteht faktisch fort.
(Über die Verstrickungen vor dem Aufstieg der Hamas berichtet ausführlich das Buch 'Gaza' von Amira Hass. Amira Hass ist eine israelische Journalistin und hat 30 Jahre als Korrespondentin für Haaretz in Gaza und Ramallah verbracht. Über die Geschichte der Westbank und des Gazastreifens unter israelischer Herrschaft berichtet ausführlich der israelische Historiker Ilan Pappe in 'The biggest Prison on Earth'.)
Ich kann die Lage nicht im Detail beurteilen. Doch ich will, was ich auch so weiß und was mich schon früher beunruhigt hat, hier kurz zusammen fassen:
Seit dem Rückzug aus Gaza behandelt Israel Gaza wie ein feindliches fremdes Land und lehnt jede eigene Verantwortung für die Menschen dort ab, während Israel gleichzeitig die Entwicklung Gazas zu einem eigenen Staat aktiv behindert. Ich glaube, in der Psychologie nennt man so etwas 'double bind'. Ich nenne es Verstrickung, eine dysfunktionale Beziehung mit irreführenden Rollen-Zuweisungen und destruktiven Verhaltens-Mustern.

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Die Fülle des Lebens
Non-FictionEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...