Dimensionen der Verstrickung

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Verstrickung ist eine dysfunktionale Form der Beziehung, die auf vergangener oder fortbestehender Grenzüberschreitung beruht. Das Verhältnis zwischen den handelnden Personen oder Gruppen ist nachhaltig gestört. Das Verhalten der Akteure ist vielfach destruktiv, das heißt, es hat Zerstörung zur Folge und löst häufig weiteres destruktives Verhalten im Gegenüber aus. So entsteht ein Teufelskreis destruktiven Verhaltens, dem nur schwer beizukommen ist.

Ich bin in Verstrickungen statt Beziehungen groß geworden und im Laufe meines Lebens vielen Verstrickungen begegnet. Es war harte Arbeit, mich aus den Automatismen zu lösen und der Nachhall böser Zeiten ist meinem Körper so deutlich eingeschrieben, dass mein Nervensystem auf ähnliches Unheil mit Mitgefühl und Betroffenheit reagiert. Es schmerzt mich in der Mitte meiner Existenz, zu sehen, wie andere sich plagen und keinen Ausweg finden.

Lange habe ich versucht, Verstrickungen mit Moral, Prinzipien und klassischer Logik beizukommen und mir an diesem harten Brot sämtliche Zähne ausgebissen. Seitdem ich zur Analyse von Mustern übergegangen bin, fühle ich mich wohler in meiner Haut. Ich habe anerkennen gelernt, dass ich Verstrickungen nicht beseitigen oder überwinden kann. Ich kann sie nicht ungeschehen machen. Und auch der Versuch, sie zu ignorieren, schafft sie nicht aus der Welt.

Was wirklich hilft, ist geduldiges Auflösen. Dazu nötig ist konsequentes, diszipliniertes Denken, emotionale Hygiene und respektvolles, verantungsbewusstes Verhalten. Die Belohnung besteht in einem Nachlassen belastender Automatismen, größerer emotionaler Freiheit und Stabilität und zuweilen auch einer Verbesserung der Beziehungen.

Grenzen:

Es ist wichtig, anzuerkennen, dass ich anderen nicht vorschreiben kann, wie sie mich sehen und mit mir umgehen. Ich kann nur mein eigenes Nervensystem dazu erziehen, sich den Fallstricken der Verstrickung zu entziehen und allmählich Voraussetzungen zu schaffen für ein besseres Miteinander. Wenn ich meinen Teil geleistet habe, kann ich nur versuchen, mich emotional von den Ergebnissen unabhängig zu machen und die Freiheit meiner Mitmenschen anzuerkennen.

Auf ein erstaunliches Beispiel für eine solche Haltung bin ich kürzlich in der Berichterstattung über die neuesten Ereignisse im Israel-Palästina-Konflikt gestoßen. Da wurde eine über 80-jährige von der Hamas freigelassen. Von den Mitgliedern der Hamas verabschiedete sie sich mit 'Shalom'. Nach ihrer Freilassung befragt, beschrieb sie in nüchternen Worten ihre Entführung als Tortur, die Behandlung in den unterirdischen Räumen der Hamas als von Respekt und Fürsorglichkeit geprägt und das Verhalten von Regierung und Militär im Vorfeld der Ereignisse als blind und unzulänglich. Sie beschrieb alles in der einfachsten, am wenigsten von Emotionen und Wertungen belasteten Form anhand konkreter Beobachtungen und Erlebnisse. Alles, was die ohnehin aufgeheizte Situation weiter hätte aufladen können, ließ sie weg. Sie hat sich zu niemandes Werkzeug oder Schergen gemacht, sich von allen freundlich, aber entschieden abgegrenzt.

Eine solche Haltung fällt nicht über Nacht vom Himmel, sondern ist gewöhnlich das Ergebnis langer, intensiver Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen, mit der eigenen Position im Leben, mit der Wahrheit über das eigene Leben und der eigenen Vorgeschichte. Und siehe da, die Frau scheint, wenn ich die Berichterstattung von 'democracy now' richtig im Kopf habe, nicht irgendwer zu sein. Allem Anschein nach ist sie eine Verwandte der Journalistin und Autorin Amira Hass, die lange in Gaza gelebt hat, bis sie 2005 von der Hamas vertrieben wurde. Sie ist dann nach Ramallah umgezogen und hat auch von dort aus berichtet.

Auch ihre Verwandten scheinen in der Friedensbewegung aktiv zu sein, sich aber anders als andere keine romantischen Vorstellungen von Frieden zu machen. Diese Frau scheint sich bewusst zu sein, dass sie den Frieden nicht mit ihrem guten Willen herstellen oder erzwingen kann. Sie kann nur ihr eigenes Leben aufräumen und der anderen Seite praktikable Angebote machen. Wie die anderen reagieren, hat sie nicht in der Hand.

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