Hier und Jetzt

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Überhaupt:

Unserem Nervensystem stehen zwar die weiten Räume der Vergangenheit und Zukunft offen. Doch das eigentliche Leben findet in der zarten Schicht zwischen noch nicht und nicht mehr statt. Wer hier nicht wirklich zu Hause ist, lebt an sich selbst vorbei, ist in seinem Leben nicht anwesend.

Liebe Anna-Maria,

ich weiß, ich habe dich enttäuscht, kann deinen Bedürfnissen nicht gerecht werden. Doch wie erkläre ich dir, was gerade los ist und warum das, was du erwartest, nicht geht?

Meine früher ausgeprägte Neigung, ausführlich über vergangenes und gegenwärtiges Elend zu reden und anderen in ihren Klagen endlos zuzuhören, hat sich in der Zeit, die wir keinen Kontakt hatten, aufgelöst. Meine vergangene Tugend, jeder fremden Erzählung mit unendlich mitfühlender Aufmerksamkeit zu folgen, ist eben das: Vergangenheit.

Inzwischen fühlt sich mein Nervensystem maximal überfordert, wenn es neben einer bestehenden Aufgabe auch noch für die Sorgen und Nöte anderer, die es weder lösen noch lindern kann, zuständig sein soll, und fährt schon mal vorsorglich die Stacheln aus.

Abgrenzung:

Wie, wirst du dich und wohl auch mich fragen, kann sich ein Mensch in wenigen Jahren so grundlegend verändern? Nachdem ich lange nachgedacht habe, würde ich sagen, die Antwort ist erschreckend einfach: In meinem Nervensystem hat sich das Gleichgewicht zwischen Resonanz und Abgrenzung verschoben. Ich habe inzwischen ein entschiedenes Bedürfnis, mich abzugrenzen, wenn mir etwas zu viel ist. Ja, ich habe oft sogar das Bedürfnis, gar nicht erst in Kontakt zu treten, wenn ich weiß, dass ich nichts anzubieten habe. Ich kann meine Bedürfnisse und Grenzen im Gegensatz zu früher deutlicher spüren und reagiere daher zuweilen schroff und spontan.

Entwickelt hat sich diese Eigenheit, nachdem mir schmerzhaft bewusst geworden ist, wie sehr ich mich selbst Jahrzehnte lang überfordert habe, dass ich mich selbst aufgrund der ständigen Überforderung kaum spüre und meine Grenzen kaum wahrnehmen, geschweige denn schützen kann. Mit und mit ist dann die Fähigkeit und das Bedürfnis zur Abgrenzung entstanden, nicht aber das weite Repertoire an passenden Verhaltensweisen, mit denen kompetente Erwachsene in unserer Gesellschaft ihr eigenes Territorium verteidigen, was mir von Kindheit an gefehlt hat, weil ich gar keine Grenzen haben durfte und konnte.

Das heißt, mein Nervensystem tut endlich, was es sollte. Doch die gesellschaftlich praktikable Form der Abgrenzung ist noch in der Mache. Leider geht dergleichen bei mir nicht schnell.

Dazugehören:

Woher kam dieses ganz andere frühere Verhalten? Auch hier ist die Antwort letztlich erschreckend einfach: Ich wollte um jeden Preis mitspielen und dazugehören. Doch nachdem ich an diesem quasi selbstmörderischen Bestreben endlos in Serie gescheitert bin, hat sich bei mir eine realistischere Einschätzung meiner Möglichkeiten und Grenzen eingestellt. Die Wahrheit ist nämlich, ich habe von Anfang an die meiste Zeit nirgends jemals dazugehört. Und Mitspielen war die meiste Zeit nur unter Bedingungen möglich, die auf die Dauer nicht erfüllbar waren.

Das lief in etwa so: "Du willst mitspielen? Kein Problem. Du passt und gehörst hier zwar nicht dazu. Aber wenn du noch über dieses Stöckchen springst und jene zusätzliche Voraussetzung erfüllst, dann darfst du hier mitmachen." Leider waren die zusätzlichen Bedingungen so, dass ich es vielleicht noch an den Start geschafft habe, aber gewiss nicht über die Ziellinie.

Oder es lief so: "Du willst hier mitmachen? Fabelhaft. Wir können für die allgemeine Kurzweil einen Hanswurscht oder Hofnarren fabelhaft gebrauchen."

Ich werde bitter und ungerecht. Das war absolut nicht mein Plan. Und natürlich waren nicht alle Beziehungen ausschließlich so. Es gab Ausbeutung. Es gab Missverständnisse und gelegentlich auch echte Anziehungskraft und wohltuendes Zusammensein. Doch richtig ist auch: Ich habe aufgrund meiner schwierigen Vorerfahrungen und meiner mangelnden Abgegrenztheit meinen Mitmenschen Angebote gemacht, die auf die Dauer nicht tragfähig sind.

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