Mittelhochdeutsch

24 1 0
                                    

Ich konnte also das Erlebnis der Begegnung mit meinen persischen Freunden nicht in Worte fassen, die wirklich wiedergaben, was ich fühlte. Die Sprache, die ich liebte und die ich schon zu Gymnasial-Zeiten virtuos handhaben lernte, ließ mich merklich im Stich. Ich wandelte mit Gefühlen umher und hatte dafür keine Worte. Für andere vielleicht eine Selbstverständlichkeit, für mich ein verstörendes, außergewöhnliches Ereignis.

Druckreife Sätze:

Angeregt von einer Äußerung meiner ungewöhnlichen Deutschlehrerin hatte ich mir angewöhnt, jeden Gedanken, der in mir auftauchte, in perfekte, grammatikalisch korrekte, vollständige Sätze zu kleiden. Was als eigensinniger Selbstversuch begann, wurzelte sich ein und wurde zur Gewohnheit, die mein Leben sehr vereinfachte. Denn seither brauchte ich die meiste Zeit nach Worten kaum suchen, wenn ich etwa einen Aufsatz schreiben musste. Ich überlegte allenfalls, welche greifbare Formulierung die angemessenere sein mochte.

Da ich mir angewöhnt hatte, bei jedem Gedanken, der mir kam, die Grammatik restlos zu beachten, formulierte ich in jeder Lebenssituation treffend und in perfekter Form. Die perfekten Sätze flossen einfach aus mir heraus - ohne zusätzliche Anstrengungen. Denn die eigentliche Anstrengung hatte schon im Vorfeld stattgefunden. Indem ich meinem Nervensystem ein spezifisches Datenformat für seine Kommunikation mit meinem Bewusstsein und mit der Außenwelt nahe gelegt hatte, verwandelte es sich in eine Art intellektuelles Schweizermesser, das in allen sprachlogischen Kontexten perfekt funktionierte, solange die Inhalte klar und das System nicht überlastet waren. Ich sprach standardmäßig in druckreifen Sätzen und schrieb im Tempo meiner Gedanken.

Dinge, die mir kompliziert, vertrackt und schwer durchschaubar erschienen, verwandelten sich pflichtschuldig in vertrackte, komplizierte, aber perfekt zu Ende gebrachte Sätze, was meine Mitmenschen - natürlich - irritierte, mir aber ganz natürlich erschien, so natürlich, dass ich dieses Detail ursprünglich in meiner Erzählung übersehen habe und es nun pflichtschuldig einfügen muss, um den werten Leser:innen einen Eindruck von meiner Beschaffenheit zu vermitteln.

Grenzen der Sprache:

Seitdem ich mit diesem Experiment begonnen und es unvermutet eine skurrile Eigendynamik entwickelt hatte, war mir nichts begegnet, was sich nicht mit etwas Mühe und Nachspüren in Worte kleiden ließ. Doch nun stand ich vor einem Phänomen, das meine Seele zum Singen brachte, und hatte keine Worte dafür - oder nur solche, die sich anfühlten wie dürres Holz, lebloser Beton, wo doch mein Leben vom Gesang des unerwartet Entdeckten überfloss. Die Worte, die ich fand, schienen mir blass und steif angesichts der fließenden, sprießenden, wehenden, atmenden und singenden Wirklichkeit.

Ja, heute will es mir gar scheinen, dass mir dies Erleben des Auseinander-Tretens von Leben und Sprache Sprache und Texte von Klassik, Romantik, innerem Exil etc, denen ich in jungen Jahren durchaus zugetan war, verleidete. Die Sprache, mit und in der ich ausgebildet war, die mir vertraut war, wie mein tägliches Frühstück, versagte, reichte nicht mehr aus, wurde dem Leben nicht mehr gerecht, Doch ausgerechnet mein Studium sorgte für Abhilfe, auf unerwartete Weise.

Studium:

Germanistik, korrekte Bezeichnung 'Deutsche Philologie', umfasste an meiner Uni historische Sprachwissenschaft, systematische Sprachwissenschaft, allgemeine Literaturwissenschaft und deutsche Literaturgeschichte inklusive Mediävistik und frühe Neuzeit. Ich habe zwar in allen Bereichen Vorlesungen und Seminare besucht, mich aber auf Mediävistik als Wissenschaft der Literatur, Kultur und Geschichte des Mittelalters, und frühe Neuzeit konzentriert. Dort bin ich einer deutschen Sprache voller Konkretheit und Unmittelbarkeit begegnet, wie sie der modernen Hochsprache kaum abzugewinnen ist. Das war Balsam für eine in den unendlichen Verästelungen der modernen Sprache verlorene Seele.

Existenzielle Literatur:

Vor allem waren es mittelhochdeutsche und althochdeutsche Texte, die meine sprachliche Verbindung zum Leben wieder hergestellt haben. Da war zuerst Wolframs herrlicher Parzival, der mir zu Gymnasialzeiten als komprimierte Reclam-Übersetzung begegnet war und mir den Wunsch einflöste, das Original lesen zu können. Da war das Wessobrunner Gebet, das gotische Vater Unser, der eine Satz aus einer althochdeutschen Evangelienharmonie, an den ich mich bis heute erinnere: "enti ambachta uuarun uuortes" - (Und sie waren Diener des Wortes). Da war die wunderbare althochdeutsche Sprache eines Ottfried von Weißenburg und der Gregorius des Hartmann von Aue. Ich hatte meine Welt gefunden, eine Welt, wo Sprache und Leben noch direkte Nachbarn und Verwandte zu sein schienen.

Andere Sprachen:

Diese Unmittelbarkeit und Klarheit gibt es wohl im alten Hebräisch der Bibel. Ich kenne einzelne Sätze, die mich sehr berührt und lange begleitet haben. Es gibt sie wohl im alten Griechisch des Homer. Doch den kenne ich nicht im Original. Das Latein des Vergil, das ich selbst gelesen habe, ist schon etwas mehr verfeinert, wenn auch noch nicht so kompliziert wie modernes Deutsch. Modernes Niederländisch und in gewisser Weise auch Persisch soll etwas von dieser Konkretheit haben, das afghanische Dari, das meines Wissens eine altpersische Sprache ist, wohl auch. Selbst modernes Englisch kennt viele Abkürzungen, die man im Deutschen vergeblich sucht. Und dann sind da die alten Dialekte, die in meiner persönlichen Entwicklung damals völlig fehlten.

Es waren also die alten Sprachformen und literarischen Texte, die mir ein bescheidenes Gefühl von Unmittelbarkeit gaben. Mein Denken schmiegte sich erleichtert in die raffinierte Schlichtheit dieser alten Sprachformen, wurde körperlicher und konkreter - ein wenig.

Und wenn ich irgendwo glauben gelernt habe, dann in diesen alten Texten. Denn die komplizierten Wahrheiten moderner Glaubenspraxis sprachen mich nicht an. Ein Wessobrunner Gebet, der Glaubenskampf eines Parzival oder die Entschiedenheit eines Gregorius dagegen berührten mich tief. Ich spürte, hier ging es nicht um geglaubte Wahrheiten und vorbildliches Verhalten in einem seichten, verlogenen, unwesentlichen Leben. Dieser Glaube ist existenziell.

Die Fülle des Lebens Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt