Lebensnähe und Lebensferne

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Lieber Jakob,

Ich freue mich sehr, dass du in meiner Geschichte vorkommst. Es wäre ungerecht gewesen, wenn du dich davon gestohlen hättest, wo du doch mit deinen Fragen zum Anlass geworden bist, genauer hin zu schauen und gründlicher nachzudenken.

Erinnerst du dich, wie du mir die Frage stelltest, ob die Menschen in diesem Land die Berichte über Nachhaltigkeit, die fremden Lebens-Entwürfe, die ich ihnen gerne näher gebracht hätte, vielleicht gar nicht aufnehmen und nutzen können, weil sie in einem Zustand der Entfremdung leben? Mich hat dieser Gedanke zunächst erschreckt, aber dann in den Monaten danach nicht mehr losgelassen. In immer neuen Lebensbereichen habe ich die Spuren der Entfremdung entdeckt, die schmerzhaft unsere gesamte Gesellschaft durchzieht.

Über naive und sentimentalische Dichtung:

Erinnerst du dich, wie ich als erstes mit Schillers 'Über naive und sentimentalische Dichtung' ankam und dort eine erste Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustands fand, der den Menschen einen unmittelbaren Bezug zum Leben unmöglich machte, weil die neue bürgerliche Gesellschaft ihnen eine Lebenshaltung abverlangte, die sich mit einer naiven, sprich ungestörten Beziehung zu ihren Gefühlen nicht vertrug?

Schiller entwirft regelrecht eine getrennte Poetologie für Autoren und Gesellschaften, die noch eine unmittelbare Beziehung zum Leben haben, und solche, die sich aus persönlichen und gesellschaftlichen Gründen nach dieser Unmittelbarkeit nur sehnen können, ohne sie jemals zu erreichen.

Schiller vergleicht den großen, 'naiven' Homer mit den ebenfalls hoch geachteten Autoren der jungen deutschen Literatur, die beim Vergleich mit den beiden literarischen Titanen, aus deren Zeilen die Überfülle des Lebens nur so heraus floss, ziemlich verkümmert und alt aussahen.

Man muss sich das vorstellen: Der deutsche Literaturmarkt war zu dem Zeitpunkt, als Schillers 'Räuber', vom Autor, einem studierten 'Feldscheer', sprich Truppenarzt oder Feldchirurg, im Selbstverlag heraus gebracht, plötzlich Furore machte und Schiller an die Spitze der deutschen Schreiberlinge spülte, einerseits sehr jung und andererseits sehr vielfältig. Da konkurrierten die Shakespeare- oder Homer-Übersetzungen diverser Autoren auf Bühnen und in Buchläden mit brandneuen einheimischen Gewächsen, plus die übersetzte Theaterliteratur aus halb Europa, einschließlich italienischen Libretti und antiken Stücken und Kants Meisterwerk 'Die Kritik der reinen Vernunft'. Goethe war bereits etabliert und in Weimar. Herder und Wieland waren dort ebenfalls zu Hause.

Homer und Shakespeare aber waren damals die Helden einer, jungen, gebildeten und ehrgeizigen Literatenschar. Sie galten Schiller als naiv, nicht weil sie sich etwa keiner raffinierten Kompositionen bedient hätten, sondern weil ihnen der Alltag der Menschen, aus dem das Leben gewebt ist, so Schwindel erregend nahe war, dass es für einen steifen, überzüchteten Menschen des 18. Jahrhunderts kaum auszuhalten war und auf ihr Nervensystem zugleich wirkte wie eine gefährliche Droge.

Sturm und Drang:

Die mächtige Bewegung der Unmittelbarkeit nannte sich 'Sturm und Drang', fegte wie ein Sturm der jugendlichen Unzufriedenheit durch die noch junge und doch so abgezirkelte bürgerliche Gesellschaft. Der Abgrund zwischen Anspruch und Wirklichkeit ließ einige abstürzen - in Selbstmord und Wahnsinn.

Goethe rettete sich mit einer Geschichte, die ihm nationalen Ruhm einbrachte und viele Leser wehrlos in den Abgrund spülte, den 'Leiden des jungen Werther'.

Ich muss gestehen, der erste Kontakt mit diesem berauschenden Text hat auch mich - Jahrhunderte später - mächtig angefasst und ich verdanke meine sichere innere Distanz der Klugheit eines Referendars, der sich heraus nahm, das gefährliche Gift in einen geschichtlichen, gesellschaftlichen und literarischen Kon-Text zu setzen und damit unschädlich zu machen. Er präsentierte uns die Gesellschaft und das Leben des Autors, aus deren Kampf der Text hervor gegangen war, und - fast noch wichtiger - die literarischen Reaktionen besonnener Zeitgenossen. So konnte ich das Gift in vollen Zügen genießen, ohne dass es sich in meinem geistigen Körper ausbreitete. Denn ich hatte das Gegengift direkt zur Hand.

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