An der Quelle

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Lebendiges Wasser:

Ich liebe Mineralwasser. Besonders faszinieren mich heiße Quellen, die öffentlich zugänglich sind. Und für einige Jahre hatte ich das Glück, in einer Stadt zu leben, wo das Alltag ist. Meine Wege führten mich oft in die Nähe einer der beiden Quellen und ich nahm mir oft die Zeit, ein paar Flaschen Quellwasser für den häuslichen Gebrauch abzufüllen.

Eines Tages stand ein alter Mann neben mir und begann ein Gespräch. Zuerst ging es um unsere gemeinsame Liebe zur heißen Quelle, dann um Glauben.

Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit eine inspirierende Predigt zur Begegnung Jesu mit der Samariterin - auch jene an einem Brunnen, wo beide nach Wasser suchten - gehört, die Jesu Ausdruck 'lebendiges Wasser' in den Mittelpunkt stellte. Und genau davon sprach plötzlich mein Gegenüber: 'maim lechaim', 'lebendiges Wasser' oder 'Wasser des Lebens' . Was mir zuvor als geniale theologische Setzung Jesu erschienen war, entpuppte sich als stehender Begriff der jüdischen Theologie und Bestandteil des jüdischen Alltags.

Er gab sich als ehemaliger Chasid und Auschwitz-Überlebender zu erkennen, ich mich als theologisch interessierte, praktizierende Katholikin. Wir redeten über Gesetz, Gnade und Erlösung. Aus dem Gespräch wurde eine längere Bekanntschaft. Ich lernte bei seiner Frau ein wenig Hebräisch und jüdische Gebete. Mit ihm gab es gelegentlich Gespräche über Glauben und Theologie.

Liturgie:

So erkannte ich, dass manche Gebete, die mir bis dahin als Beiwerk im opulenten katholischen Gottesdienst erscheinen waren, in Wahrheit alte jüdische Gebete waren, die wohl schon Jesus benutzt haben dürfte. Von da an waren mir diese Momente heilig. Es war, als teilte ich ein Geheimnis mit dem Ewigen und der menschlichen Geschichte. "Baruch a ta adonai eluhenu....", "Gepriesen seist du Herr, unser Ewiger...." Das ist ein schlichtes Gebet, das den jüdischen Alltag seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden durchzieht, eine unscheinbare Kostbarkeit, die uns von den Vorvätern hinterlassen wurde, ein Gebet, wo sich der Mensch ehrfürchtig vor seinem Schöpfer verneigt und ihm dankt. Ich weiß nicht, wann der Tagesablauf, die Gebete und Traditionen, die heute gelten, kanonisiert wurden. Aber mir ist dieser Splitter an Erkenntnis, dies Gefühl der ununterbrochenen Anbetung über die Jahrtausende heilig.

Der Höhepunkt meines spirituellen Lustwandelns in einem Paradies-Gärtlein, das sich mir unverhofft geöffnet hatte, war aber die zahlenmystische Ausdeutung des Wortes 'echat' im ersten Satz des jüdischen Glaubensbekenntnisses: "Schma Israel adonai eluhenu, adonai echat ' - Höre Israel, der Herr unser Ewiger, der Herr ist einzig.

'echat', so erfuhr ich, kann man als 'einer' oder 'einzig' verstehen. Aber es gibt auch noch eine zahlenmystische Interpretation, wo anhand des Zahlenwerts der einzelnen Buchstaben eine Deutung der Einzigartigkeit Gottes vorgenommen wird.

Mystik:

Ich verstand augenblicklich. Denn Mystik war mir nichts Neues. Ich hatte in der Schulzeit die mathematische Mystik eines Nikolaus von Kues für mich entdeckt, in meiner Studienzeit Meister Eckhardt gelesen und mich für Parzival, Gregorius, Ottfried von Weißenburg und das Wessobrunner Gebet begeistert.

Das Wessobrunner Gebet: 'dat gafreggin ih mit firahim firiuuiso meista, dat ero ni uuas noh uf himmel, noh paum noh pereg ni uuas noh der mareo seo. Enteo ni uuenteo. Enti cot helac...' - "Das erfragte ich mit Eifer als der Wunder größtes, dass die Erde nicht war noch der Himmel oben, noch Baum noch Berg nicht war, weder Ende noch Wende noch das (weite) Meer. Und Gott, der Heilige...." Hier bricht das gewaltige althochdeutsche Gebet ab, das in Ehrfurcht dem Augenblick der Schöpfung huldigt, von dem wir heute wissen, dass es in seiner erweiterten Form kein Augenblick war, sondern ein Prozess von einigen Milliarden Jahren. Nicht weniger erstaunlich, unverfügbar und inspirierend nach wie vor. Und wenn man der Urknall-Theorie folgt, dann gibt es nach wie vor diesen Moment des Umschwungs vom unvorstellbaren Nichts zu den Grundlagen all dessen, was wir kennen. Man könnte sagen, Astrophysik und Evolutionsbiologie sind die Mystik der Atheisten.

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