Ich habe mich überfordert. Jahre lang. Jahrzehnte lang. Maximal.
Rücken:
Als ich zu Beginn meiner Feldenkrais-Ausbildung einer Herausforderung, die für mich zu viel war, nicht ausgewichen bin und mir das ein halbes Jahr massive Rückenprobleme beschert hat, wurde mir diese massive Überforderung langsam klar. Sie manifestierte sich in meinem Körper und zog durch all meine Sinne. Ich kam nicht mehr daran vorbei. Und plötzlich verstand ich:
Um überhaupt irgendwo mitspielen zu können, überhaupt machen zu dürfen, was ich gut kann, um überhaupt lernen zu dürfen, wonach sich mein Nervensystem sehnte, musste ich Jahrzehnte lang Ansprüchen gerecht werden, die ich kaum erfüllen konnte.
Der permanente Druck, das eigentlich Unmögliche zu leisten, um das Mögliche zu dürfen, war meinem Körper von Kindheit an so eingeschrieben, dass er sich gar nicht erinnern konnte, wie sich ein Leben ohne diesen Druck anfühlt. Und wenn der mit Verkrampfung und Verunsicherung verknüpfte Dauerzustand einmal für kurze Zeit unterbrochen wurde, wurde ich sofort übermütig. Ich fühlte mich wie mit Superkräften ausgestattet. So wenig hatte ich gelernt, meine wahren Kräfte einzuschätzen.
Kollaps:
Ich hatte nie gelernt, zu spüren, wenn mir etwas zu viel wurde, weil ich nie das Recht hatte, dergleichen zu empfinden oder gar zu sagen. Wenn ich nicht mehr konnte, ging ich noch 10 km weiter. Meine Grenzen waren also schon im 'Normalzustand' maximal überschritten. Wenn noch irgendwas dazu kam, ging plötzlich gar nichts mehr.
Genau das geschah, als ich zum Ende der Probezeit einen Job verlor, um den ich verzweifelt gekämpft hatte. Denn ich spürte, wenn ich das nicht schaffe, geht gar nichts mehr. Ich verlor meinen Job, meine kleine Dienstwohnung und die Hälfte meines gerade erst neu erarbeiteten sozialen Umfeldes.
Einige wohlwollende Kolleg:innen halfen beim Umzug und hielten noch eine Weile Kontakt, bis sie entweder zu dem Schluss kamen, lange genug unbezahlte Sozialarbeit geleistet zu haben, bis ich, von der nächsten oder übernächsten Welle überrollt es nicht mehr auf die Reihe brachte, die Beziehung zu pflegen oder wir uns einfach nichts mehr zu sagen hatten.
Ich landete in einem kleinen Wohnheimzimmer, das eine Bekannte mir vermittelt hatte, und einem anhaltenden psychophysiologischen Schockzustand. Das passierte mir damals nicht zum ersten Mal. Aber ich nahm es zum ersten Mal bewusst wahr. Denn ich hatte Monate Zeit, um diesen Zustand zu kartografieren.
Ich hatte etwa 3 Stunden am Tag, wo ich mich einigermaßen konzentrieren konnte. Das musste reichen für meine stark reduzierten täglichen Pflichten, soziale Kontakte, Gottesdienste, Behörden-Geschichten, Spaziergänge, Therapie, meine Sachen sortieren und mich einrichten, und vor allem - die Suche nach einem Ausweg.
Psychphysiologischer Schockzustand heißt, das Nervensystem wird von so vielen widersprüchlichen Emotionen, Impulsen und Anforderungen überrollt, dass es die innere und äußere Welt nicht mehr angemessen abbilden kann und kapituliert wie ein Computer oder Netzwerk bei einer Übersättigungsattacke.
Bei mir bedeutet das, dass ich kaum noch etwas empfinde, teilweise in einem leichten Trance-Zustand herum laufe und mein Nervensystem sich weigert, irgend etwas anzupacken, was über das zum physischen, emotionalen, geistigen und sozialen Überleben Notwendige hinaus geht. Es sieht so aus, als würde ich Stunden, Tage, Wochen, Monate nur vor mich hin vegetieren. Aber in Wirklichkeit arbeitet mein Nervensystem mit Hochdruck daran, sich neu zu organisieren und hängt dabei ein Schild vor die Tür: Bitte nicht stören!
Aufräumen:
Das Nervensystem muss versuchen, die vorhandenen Daten auszuwerten und neue Verknüpfungen herzustellen. Denn die alten funktionieren offensichtlich nicht mehr. Das kostet Zeit.
Es ist wie bei einem Forschungsteam, das eine neue Lösung finden muss oder ein neues Gerät entwickelt. Man hat zunächst nur ein paar Anhaltspunkte und Vermutungen. Dann probiert man Dinge aus, entwickelt eine Theorie, testet, verfeinert oder widerlegt sie, arbeitet sich Schritt für Schritt voran.
Ähnlich arbeitet das menschliche Nervensystem, wenn es mit einer potentiell bedrohlichen Situation konfrontiert ist, für die keine geeigneten Konzepte und Verhaltensweisen verfügbar sind. Sobald die erste Verwirrung vorbei ist, sucht es sich zu orientieren, versucht Vorhandenes neu zu kombinieren, um neue Ziele zu erreichen.Apollo 13:
Wie so etwas läuft, zeigt sehr schön der Film 'Apollo 13'. Die Crew ist mit einer Raumkapsel und einem Mondlander auf dem Weg zum Mond, als einiges schief geht. Also beginnt man auf der Erde zusammen mit den Betroffenen, fieberhaft zu berechnen, wie sie statt zum Mond schnellstmöglich zur Erde zurückkehren können. Dann fällt auch noch das Gerät aus, das das CO2 in der Raumkapsel wieder in Sauerstoff verwandelt. Es gibt ein Gerät, das diese Funktion übernehmen könnte. Aber es ist mit dem Gerät, mit dem es zusammen arbeiten müsste, um diese Funktion erfüllen zu können, nicht kompatibel. Also bekommt auf der Erde ein Team von Experten eine Kiste mit den Gegenständen, die in der Raumkapsel vorhanden sind, und muss einen Weg finden, die beiden Geräte zu verbinden. Für ein anderes Problem steigt ein Kollege in den Simulator und sucht nach einer Lösung, die an die Crew im All weiter gegeben wird. Wieder andere Probleme werden vor Ort im Dialog mit der Basis auf der Erde gelöst. Ähnlich arbeitete sich damals mein Nervensystem voran und nutzte dabei extensiv Input von außen.
Kleine Erfolge:
Trotz des permanenten Ausnahmezustandes, in dem ich mich damals befand, habe ich mit Kolleg:innen den Umzug organisiert, in Ruhe mein neues Zuhause eingerichtet, mich mit den neuen Mitbewohnern zurecht gefunden, Behörden informiert, Ärzte konsultiert, Gottesdienste besucht, lange Spaziergänge unternommen und unendlich lange Telefonate geführt. Eine Seelsorgerin empfahl mir einen Therapeuten und eine Ärztin. Jemand in der Gemeinde hatte von 12-Schritte-Gruppen für emotionale Gesundheit in Anlehnung an das Programm der anonymen Alkoholiker gehört. Dort erfuhr ich von entsprechenden psychosomatischen Kliniken. Ich nutzte jedes Werkzeug, das sich mir bot.
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Die Fülle des Lebens
No FicciónEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...