Aussortiert

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In der Krankenpflege-Ausbildung hatten wir die Möglichkeit OPs zu sehen, damit wir eine Vorstellung hatten, was mit unseren Patienten passiert. Bei mir war das eine Krebs-OP, eine Augen-OP, eine Ohren-OP und eine Hysterktomie - Entfernung der Gebärmutter. Bei einer Mitschülerin war eine Abtreibung dabei. Das Kind hatte Trisomie 23 - Mongolismus.

Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, das Thema Abtreibung zu thematisieren, also wie richtig oder falsch es ist, einen Fötus abzutreiben. Meine persönliche Haltung zu diesem Thema ist ziemlich komplex und mein Bedürfnis, anderen gemäß meiner eigenen Haltung Vorschriften zu machen, quasi nicht vorhanden.

Mir geht es eher darum, über den Wert und die Chancen eines Menschen in unserer Gesellschaft zu sprechen. Denn ungefähr zu der Zeit, als dieser von Trisomie betroffene Fötus offensichtlich aufgrund der Trisomie abgetrieben wurde, war ich regelmäßig mit einer mütterlichen Freundin zusammen, die mir oft und mit großer Begeisterung von ihrer ebenfalls betroffenen Enkelin erzählte.

Dieses Kind war ihr Glück und ihr Stolz. Es war ihr bewusst, dass ihr Nachwuchs intellektuell erst einmal nicht mithalten konnte. Aber - mein Gott - war die Kleine emotional fit und überwältigend liebenswert! Außerdem hatte die Großmutter die Information, dass ihr Enkelkind nicht weniger intelligent ist als andere, nur langsamer. Sie lernt nicht prinzipiell schlechter, sondern nur anders. Das Gesundheitswesen und das Bildungssystem - so schien es - boten die Infos und Werkzeuge an, die der Kleinen ermöglichten, sich optimal zu entwickeln.

Einige Zeit später bin ich durch Zufall auf eine geschlossene psychiatrische Station gestoßen, wo eine ganze Herde 'Mongölchen' komplett unter sich war und von der Welt radikal abgeschnitten. Dort wurde ein wenig Musizieren mit Orff-Instrumenten als große Errungenschaft gepriesen und Besuchern vorgeführt wie ein Zirkus-Programm.

Jahre später bin ich dann in einem Bürger-Radio einem älteren Herrn begegnet, der erstklassige Interviews führte, eine exzellente Fragetechnik drauf hatte und einen Satzbau, wie er mir selten unter gekommen ist. Auch dieser Mensch war mit Trisomie gesegnet.

Der Unterschied zwischen diesen Menschen war offenbar nicht ihre genetische Disposition, sondern die Vorstellungswelt ihres Umfeldes.

Ich bin im Internet auf die Geschichte eines deutschen Ehepaares gestoßen, die nach Rumänien gereist sind, um ein Kind zu adoptieren. Ihnen wurden schwer behinderte Zwillinge angeboten, von denen deutsche Fachleute glaubten, sie würden niemals gehen, stehen, sitzen, sprechen oder irgend eine Form von Sozialverhalten lernen. Die Eltern haben sich in diese Kinder verliebt, um sie gekämpft und sie haben all das gelernt, was andere für unmöglich hielten.

Legasthenie und Stottern:

In meiner Kindheit kannte ich ein junges Mädchen, das in einem Behindertenheim lebte - aufgrund von Legasthenie. Dass sie es nicht geschafft hatte, vernünftig lesen und schreiben zu lernen, reichte offenbar für irgendwen aus, sie für den Rest ihres Lebens abzuschreiben.

Später war eine meiner besten Therapeutinnen von Haus aus mit Legasthenie und Stottern gesegnet. Ich habe davon nichts mitbekommen, aber sie hat mir mal einen von ihren Tricks verraten, den ich noch heute benutze.

Spastiker:

Ich hatte als Kind mit einem Nachbarn zu tun, der als 'Spastiker' galt. Aber man sah ihm das nicht an. Er arbeitete als Arzt im nahen Krankenhaus.

Mir sind auch Menschen mit der gleichen Störung begegnet, die ihre Tage auf einer Pflegestation verbracht haben, und andere, die irgendwo dazwischen angesiedelt waren. Eine davon war meine Kollegin und in unseren persönlichen Gesprächen erzählte sie mir, welchen Diskriminierungen sie auf dem Gymnasium ausgesetzt war. Wenn sie an das Wort Integration dachte, spuckte sie Gift und Galle.

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